Der Künstler und Designer Joep van Lieshout hat seit den 80er Jahren ein komplexes und vielfältiges Werk an der Schnittstelle
von Kunst, Design und Architektur geschaffen, das die Trennung zwischen diesen Bereichen bewusst unterläuft. Der Entwurf eines
radikal anderen Lebens beschäftigt ihn schon früh. Nach seinem Bildhauereistudium entdeckt er den Reiz von Modulsystemen und
beginnt eigene Möbel in Serie zu produzieren – nüchterne, einfache und praktische Objekte. Alle seine Möbel sind in auffallend
leuchtenden Farben und aus Polyester hergestellt, ein Material, das mittlerweile sein Markenzeichen ist. Architektonische
Erweiterung erfährt das Werk van Lieshouts in multifunktionalen Wohneinheiten, die mobil und beliebig erweiterbar sind, entstanden
in Verbindung mit Ideen zur gesellschaftlichen Utopie eines unreglementierten, autarken Lebens.
Der Name des 1995 gegründeten Atelier Van Lieshout (AVL) betont den Umstand, dass alle Werke in einer kollektiv organisierten
Arbeits- und Lebensweise von einem multidisziplinären Team geschaffen werden. Einen Höhepunkt von AVL stellte 2001 die Ausrufung des Freistaates "AVL-Ville" rund um das Atelier im Rotterdamer Hafen dar.
Dem autonomen Künstlerstaat mit eigener Verfassung, Währung und Flagge, befreit von gesellschaftlichen Zwängen und Vorschriften,
wurde von der Stadtverwaltung nach einem halben Jahr die Genehmigung entzogen.
AVL lebt einen erweiterten Kunstbegriff: Zu den künstlerischen Ausdrucksmitteln gehört die Zeichnung ebenso wie die Gestaltung
der Servicewagen für die Cafeteria des MoMA in New York oder die Entwicklung eines Abwasserverwertungssystems. Schon lange widmet sich van Lieshout Themen, die im weitesten Sinn um Behausung, Verpflegung, Entsorgung, Fortbewegung und
Fortpflanzung kreisen. Auch die Polyesterskulpturen "Arschmann" (2004) und "Funnelman" (2004) zeigen menschliche, anonymisierte
Figuren, die mit den physiologischen Notwendigkeiten der Nahrungsaufnahme und der Verdauung beschäftigt sind. Diese Vorgänge
erdulden sie in großer Passivität. Der Trichter (funnel), der mit dem Körper von "Funnelman" verschmilzt, kann jederzeit neu gefüllt werden. "Funnelman" steht stellvertretend für
jeden von uns, dem die Gesellschaft permanent Normen und Vorschriften eintrichtern will. Lucie Binder-Sabha