WIEN MODERN

Musik zwischen Gegenwart und Mittelalter

WIEN MODERN

Musik zwischen Gegenwart und Mittelalter
Sa, 19.11.2011, 19:30 Uhr

Klosterneuburg

Das Vorhaben, ein Stück zu schreiben, das sich ausdrücklich auf den Einsatz minimaler musikalischer Mittel konzentriert, geht auf eine frühere Komposition von Gerd Kühr zurück: die "Revue instrumentale et électronique", eine 2005 uraufgeführte Raumkomposition für Instrumentalensemble und Zuspielungen.

Das Vorhaben, ein Stück zu schreiben, das sich ausdrücklich auf den Einsatz minimaler musikalischer Mittel konzentriert, geht auf eine frühere Komposition von Gerd Kühr zurück: die "Revue instrumentale et électronique", eine 2005 uraufgeführte Raumkomposition für Instrumentalensemble und Zuspielungen. In Anlehnung an Hans Werner Henze, der (mit Bezug auf Pablo Neruda) für sein kompositorisches Schaffen gerne den Begriff „impura” (= unrein) heranzieht, will Kührs neues Ensemblestück hingegen „pura” wirken.
Fasziniert von der Klarheit und Transparenz Alter Musik, setzen sich KomponistInnen immer wieder mit Werken auseinander, die gleichsam die Wurzeln der abendländischen Kunstmusik bilden. Anschauliche Beispiele dafür zeigt das Programm dieses Konzertes im Rahmen von WIEN MODERN: insofern ein ideales Umfeld für Gerd Kührs neues Werk "Música Pura".

Friedrich Cerha, der heuer seinen 85. Geburtstag feierte, reflektiert die Wurzeln seiner musikalischen Vorstellungen in seinen 1992 (ebenfalls im Auftrag der Sammlung Essl) entstandenen "Quellen" in sehr persönlicher Weise.


Auf Anregung von Claudio Abbado vergibt die Sammlung Essl alljährlich einen Kompositionsauftrag, der im Rahmen des Festivals WIEN MODERN im Klosterneuburger
SCHÖMER-HAUS uraufgeführt wird. 1992 war es Friedrich
Cerha, der mit seinen Quellen das erste Werk für dieses von Heinz Tesar konzipierte Bauwerk schuf, und heuer erlebt mit Gerd Kührs Música pura das zwanzigste Stück dieser Reihe sein Uraufführung. Beide Kompositionen erklingen im außergewöhnlichen Ambiente des SCHÖMER-HAUSES. Seine architektonische Struktur mit den dreigeschossigen umlaufenden Galerien und dem ellipsenförmigen Grundriss erzeugt eine ganz besondere Raumakustik, die an eine mittelalterliche Kathedrale denken lässt. Oder auch an den Markusdom in Venedig mit seinen gegenüberliegenden Emporen, die Renaissancekomponisten wie Giovanni Gabrieli zu mehrchörigen Raumklangkompositionen inspirierten.

Musik aus dieser Epoche wird auch heute zu hören sein und bildet einen spannungsreichen und beziehungsvollen Kontrapunkt zu den beiden, 20 Jahre auseinanderliegenden Auftragskompositionen von Gerd Kühr und Friedrich Cerha: Renaissancemusik aus England in zeitgenössischen Bearbeitungen von Harrison Birtwistle, Peter Maxwell Davies und mir. Damit wird auch eine Verbindung zu dem Jahresmotto unserer Konzertreihen hergestellt, das heuer CROSS THE BORDER lautet; Grenzüberschreitungen zwischen Kulturen, Epochen und Stilen werden hier thematisiert und ästhetisch erfahrbar gemacht.

Univ.-Prof. Dr. Karlheinz Essl
Musikintendant der Sammlung Essl

 
PROGRAMM
John Dunstable, John Bedingham, Karlheinz Essl: O rosa bella
bearbeitet für Flöte, Oboe, Klarinette, Violine, Viola und Violoncello von Karlheinz Essl
  Ballata
  Tabulatura
  Missa - Kyrie I
  Missa - Christe
  Missa - Kyrie II
  Quodlibet
  Concordantiae
  Epilog (Komponist: Karlheinz Essl)
 
Gerd Kühr: Música pura (2010/2011)
Fünf Sätze für Ensemble
Auftragswerk der Sammlung Essl für WIEN MODERN 2011


Guillaume de Machaut: Hoquetus David
bearbeitet für Flöte (Piccolo), Klarinette, Glockenspiel,
Glocken, Violine und Violoncello von Harrison Birtwistle
 
Aus: Four Instrumental Motets from Early Scottish Originals
 bearbeitet für Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello, Celesta, Gitarre und Percussion von Peter Maxwell Davies
  David Peebles und Heagy: Si Quis Diligit Me
  Anonymus: All Sons of Adam
  John Angus: Our Father whiche in Heaven Art

Friedrich Cerha: Quellen (1992)
für Ensemble
Auftragswerk der Sammlung Essl für WIEN MODERN 1991

 

AUSFÜHRENDE
Ensemble die reiheDirigent: Gerd Kühr


WERKEINFÜHRUNGEN

von Karlheinz Essl

MUSICA PURA
Die Programmgestaltung des heutigen Abends nutzt die räumlich-akustische Disposition des SCHÖMER-HAUSES und bezieht sich darüber hinaus auf das vom Festival vorgegebene Thema "UK Collection". Die Gegenüberstellung englischer und österreichischer Komponisten wird hier auf ganz spezielle Weise eingelöst, indem Musik der (vornehmlich) englischen Gotik und Renaissance in Bearbeitungen britischer und österreichischer Komponisten zu hören sein wird. Damit bildet sie einen Kontrapunkt zur zeitgenössischen Klangsprache von Friedrich Cerha und Gerd Kühr, die sich intensiv mit Alter Musik auseinandergesetzt haben; man denke etwa an Cerhas Editionen frühbarocker Instrumentalwerke. Gerhard Kühr fand die Idee so reizvoll, dass er sein Auftragswerk Música pura in Bezug auf die in diesem Konzert gespielte gotische Musik komponierte. Dies findet nicht zuletzt auch im Titel dieser Auftragskomposition seinen Niederschlag.
 Dass Gerd Kühr für sein Werk ein "Reinheitsgebot" proklamiert, verwundert zunächst. Man denke an seine klangsinnlichen und ausdrucksgesättigten Musiktheaterwerke wie den Stallerhof, die alles andere als "rein" erscheinen, sondern – im Gegenteil – das Leben in seiner Derbheit und Abgründigkeit abbilden. Danach befragt, berichtet der Komponist, dass er während seiner Studienzeit mit seinem Lehrer Hans Werner Henze (dem das Stück übrigens gewidmet ist) über den von Pablo Neruda entlehnten Begriff einer "arte impura" diskutiert habe. Musik sollte demnach das Leben in seiner ganzen Fülle und Tragik reflektieren und sich nicht auf eine unangreifbare Position zurückziehen. Música pura hingegen wäre eine Musik, die für sich selbst steht, sich selbst genügt und ihre Expressivität aus dem Inneren schöpft, ohne sich aufgesetzter expressiver Gesten zu bedienen: "Tonsatz" im besten Sinne des Wortes.
 
Ausgangspunkt für das neue Werk stellt paradoxerweise Kührs Revue instrumentale et électronique (2004/05) dar, eine wilde und expressive Raummusik für Instrumentalensemble und Zuspielungen – das genaue Gegenteil jener imaginierten "musica pura". Und dennoch findet sich in diesem klangwütigen Panoptikum eine Insel der Ruhe, die dem neuen Werk als Grundmaterial dient. Der erste Satz (der übrigens zuletzt komponiert wurde) stellt eine erweiterte Umarbeitung und Neuinstrumentierung dieser Vorlage dar: eine äußerst sorgfältig konstruierte und klanglich behutsam ausbalancierte Gestalt, die mit nur 5 Tonhöhen in verschiedenen Oktavlagen ihr Auskommen findet und in zartesten Klangspähren angesiedelt ist. Im letzten Stück mit seinen Klangflächen und den sich immer mehr verdichtenden Klangpunkten hat sich die Musik zuletzt freigespielt und – per aspera ad astra – zu einer neuen, aus dem Inneren herauswuchernden Expressivität gefunden.
 
Es war Gerd Kührs ausdrücklicher Wunsch, zwischen den 5 Sätzen seines Werke jene Musik einzuschieben, auf die er Bezug genommen hat: Zunächst einmal der berühmte Hoquetus David des 1377 verstorbenen Kanonikers Guillaume de Machaut in einer mit Glockenklängen angereichteten Instrumentierung von Harrison Birtwistle. Weiters drei Stücke aus den Four Instrumental Motets from Early Scottish Originals, in denen sich Peter Maxwell Davies in seiner Bearbeitung immer weiter von den Vorlagen entfernt.
 
Als Einstieg in die Welt des Spätmittelalters erklingt zu Beginn des Konzertes die von mir bearbeitete Chanson O rosa bella, die John Dunstable (ca. 1390–1453) zugeschrieben wird und zu ihrer Zeit ungemein populär war. Sie tauchte in verschiedenen Paraphrasen als Messkomposition, Orgelintabulierung und sogar als Quodlibet auf und findet sich in den wichtigsten Handschriften ihrer Zeit. Nach eingehendem Quellenstudium während meines Musikwissenschaftsstudiums habe ich die Fundstücke instrumentiert und in einen musikalischen Ablauf gebracht, dem ich zuletzt eine eigene Bearbeitung als Epilog folgen ließ.
 
Friedrich Cerha, der dieses Jahr seinen 85. Geburtstag feiert, hat 1992 mit seinen Quellen das erste Auftragswerk für das SCHÖMER-HAUS komponiert. Dieses Werk bildet den Abschluss des heutigen Konzertes und leitet von seinem spätgotischen Beginn über in unsere heutige Welt. "Der Titel", so der Komponist, "bezieht sich darauf, dass ich bei der Konzeption mir klarzuwerden versuchte, aus welchen Wurzeln meine musikalischen Vorstellungen kommen. Ich begann das Repertoire meiner Phantasie kritisch zu durchforsten, alles zu eliminieren, was sich an oft Geübtem und allzu Bewährtem angesammelt hatte. Vielleicht im Zusammenhang damit, daß ich eben eine schwere Krankheit überlebt hatte, wollte ich eine Bilanzierung meiner musikalischen Mittel vornehmen. Ein gewisser Bestand an Gestaltungsmöglichkeiten bleibt grundsätzlich erhalten, aber die "Quellen" meiner musikalischen Inspiration sollten klarer, deutlicher hervortreten, auch und gerade dort, wo sie manchem unzeitgemäß erscheinen." Dies führt zu einer großteils meditativen Musik, die immer wieder von "geschäftigen" Einschüben unterbrochen wird, die aus der polymetrischen Überlagerung afrikanischer Rhythmen entstehen.
 

BIOGRAPHIEN

Gerd Kühr
geboren 1952 in Maria Luggau, Österreich | 1960 Erlernung des Akkordeons | erste Kompositions¬versuche bereits im Volkschulalter | 1968–1972 Klavierstudium und Studium der Musiktheorie am Landeskonservatorium Klagenfurt | Studium der Geschichte an der Universität Salzburg sowie Musikpädagogik am Mozarteum Salzburg | 1974–1978 Dirigierstudium bei Gerhard Wimberger | 1976–1978 Kompositions¬studium bei Josef Friedrich Doppelbauer | weitere Kompositionsstudien bei Hans Werner Henze in Köln | als Dirigent zahlreiche Auftritte im In- und Ausland | Auf¬tragskompo¬sitionen für: WIEN MODERN, das Almeida Festival, das Huddersfield Festival, den steirischen herbst, musikprotokoll, musica viva, World Music Day, das Schleswig-Holstein-Musikfestival, der Salzburger und der Bregenzer Festspiele | Aus¬zeichnungen und Preise: Kompositionsförderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung, Österreichischer Förderungspreis für Musik, Rolf-Liebermann-Stipendium für Opern¬komponisten, Ernst-Krenek-Preis der Stadt Wien | 1985–1994 Lehrauftrag an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz | 1992–1994 Gastprofessor für Komposition an der Universität Mozarteum Salzburg und 1994/95 an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz | seit 1995 ordentlicher Professor und Leiter einer Kompositionsklasse an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz
 

Friedrich Cerha
geboren 1926 in Wien, Österreich | 1935 erste Kompositionsversuche | ab 1946 Studium an der Akademie für Musik und darstellende Kunst Wien: Geige bei Gott- fried Feist und Vasa Prihoda, Komposition bei Alfred Uhl und Musikerziehung | Studium an der Universität Wien: Germanistik, Musikwissenschaft und Philosophie | 1956–1958 Inter¬nationale Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt | 1958 gemeinsam mit Kurt Schwertsik Gründung des Wiener Solistenensembles die reihe, das er Jahrzehnte lang leitete | 1960/61 erschien der Zyklus Spiegel I–VII | internationale Anerkennung für seine Fassung des 3. Aktes von Alban Bergs Lulu | 1976 Ernennung zum ordentlichen Professor an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien | ständige Auseinandersetzung mit unter¬schiedlichen Stilrichtungen wie der Zwölftonlehre, dem Neoklassizismus oder der Seriellen Musik | Festivalschwerpunkt bei der Salzburger Biennale anlässlich seines 85. Geburtstages | zahlreiche Ehren¬mitgliedschaften | Preise und Auszeichnungen: Förderungspreis des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst Wien 1971, Würdigungspreis der Stadt Wien 1974, Großer Österreichischer Staatspreis 1986, Goldener Löwe für sein Lebenswerk der Biennale di Venezia 2006, Musikpreis Salzburg 2011
 

Harrison Birtwistle 
 geboren 1934 in Accrington, England | ab 1952 Studium: Klarinette und Komposition am Royal Manchester College of Music | 1953 zusammen mit den Komponisten Peter Maxwell Davies, Alexander Goehr, John Ogdon und Elgar Howarth Gründung der New Music Manchester Group, die sich der Aufführung serieller und anderer zeitgenössischer Musik widmete | 1975-1988 musikalischer Leiter des Royal National Theatre, London | 1995–2001 Henry Purcel-Professor für Komposition am King’s College, London | Preise und Auszeichnungen: Grawemeyer Award, Ernst von Siemens Musikpreis, British Companion of Honour | zum Chevalier des Arts et des Lettres und in den britischen Adelsstand erhoben | 2004 Schwerpunktprogramme zum 70. Geburtstag beim Lucerne Festival sowie im Londoner South Bank Centre
 

Peter Maxwell Davies
 geboren 1934 in Salford, England | Studium an der University of Manchester und am Royal Manchester College of Music | 1956 Studium bei Goffredo Petrassi in Rom | 1959– 1962 Musik¬direktor an der Cirencester Grammar School | weitere Studien an der Princeton University bei Roger Sessions, Milton Babbitt und Earl Kim | 1965/66 Composer-in-Residence der University of Adelaide, Australien | 1979–1984 künstle¬rischer Leiter der Dartington Summer School | 1992–2002 stellver¬tretender Dirigent und Komponist des Royal Philharmonic Orchestra | Auszeichnungen und Preise: Commander des Order of the British Empire 1981, Knight Bachelor 1987, Music Award der Royal Philharmonic Society 1994, Premio del presidente della Republica Italiana 2007 | 2004 wurde er zum Master of the Queen’s Music ernannt
 

Karlheinz Essl
 geboren 1960 in Wien, Österreich | 1979–1987 Studium der Komposition bei Friedrich Cerha, der Elektroakustischen Musik bei Dieter Kaufmann sowie Kontrabass- Studium bei Heinrich Scheikart an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien | Studium der Kunstgeschichte und Musik¬wissenschaft an der Universi- tät Wien | 1989 Promotion mit einer Dissertation über Das Synthese-Denken bei Anton Webern | bis 1984 als Kontrabassist bei Kammerensembles und experimentellen Jazzformationen tätig | Entwicklung von Computerprogrammen für Algorithmische Komposition | 1990–1994 Composer-in-Residence bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt | 2003 Artist-in-Residence des Festivals musik aktuell | 2004 Kurator der Reihe Akzente am Bruckner- haus Linz | 1995–2006 unterrichtete er Algorithmic Composition am Studio for Advanced Music an Media Technology der Anton Bruckner Privatuniversität | Gast- vorlesungen in Graz, Toronto, Kopen¬hagen, Köln, Stuttgart, Hamburg, Groningen und Wien | Musikintendant des Essl Museums in Kloster¬neuburg | seit 2007 Kompositionsprofessor für elektro-akustische Musik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien
 

DIE REIHE
1958 gegründet von Friedrich Cerha und Kurt Schwertsik | Vorkämpfer für die Präsen¬tation von zeitgenössischer Musik | musikalische Bandbreite des Ensembles: wesentliche Kammermusikwerke aller Stilrichtungen seit dem Jahr 1900 mit einem Schwerpunkt auf die Zweite Wiener Schule | besonderes Augenmerk auf das künstlerische Schaffen nach 1945 | seit den 1960er Jahren Veranstal¬tung eigener Konzertzyklen in Wien | Gast bei den führenden Festivals in den USA, England, Finnland, Portugal, Spanien, Deutsch¬land, Ungarn, Russland und China | 1983–2009 HK Gruber künstlerischer Leiter des Ensembles | seit 2010 sind HK Gruber und Christian Muthspiel Artistic Partners des Ensembles | Gastdirigenten: Arturo Tamayo, Dennis Russell Davies, John Cage, Nicholas Cleobury, Ernst Krenek, Mathias Rüegg, Kurt Schwertsik, Giuseppe Sinopoli, Stefan Soltesz, Erich Urbanner, Kasper de Roo, Henry Brant, Peter Keuschnig, Peter Rundel, Erwin Ortner, Gottfried Rabl, Mario Bonaventura, Johannes Kalitzke u.a.

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