KAIROS QUARTETT

Streichquartette von Georg Friedrich Haas und Giorgio Netti

KAIROS QUARTETT

Streichquartette von Georg Friedrich Haas und Giorgio Netti
Sa, 07.05.2005, 19:30 Uhr

Das Schömer-Haus

Entrückte Klangwelten, die den gewohnten Sound eines Streichquartettes transzendieren, stehen im Zentrum dieses Konzertes, das vom Berliner KAIROS QUARTETT gespielt wird.
Das Streichquartett hat sich im Laufe seiner fast 250jährigen Geschichte zur Königsdisziplin der Kammermusik entwickelt. War es zu Zeiten seiner Entstehung bei Boccherini noch dem vergnüglich-unbeschwertem Divertimento verhaftet, verschob sich sein Anspruch bereits bei Haydn und Mozart in Richtung auf eine Musikgattung, die gleichermaßen den unbedarften Liebhaber als auch den eingeweihten Kenner zufriedenstellen sollte. Seit Beethoven und Brahms begann sich eine neue Entwicklung abzuzeichnen: Das Streichquartett wurde zum Ort kompositorischer Experimente, den die Komponisten oftmals zur Erprobung neuer musikalischer Ausdrucksformen wählten.

Dieser Ansatz hat sich vielfach bis heute erhalten. Im Wissen um die historische Bürde, die Dank vieler Meisterwerke auf dieser Gattung lastet, ist ein unbefangenes Herangehen an das Streichquartett heutzutage für einen Komponisten weder sinnvoll noch möglich.

An diesem Abend sind zwei Streichquartette aus jüngerer Zeit zu hören, und in beiden Fällen haben sich die Komponisten der Herausforderung dieses Unterfangens auf sehr persönliche und eigenständige Weise gestellt. Georg Friedrich Haas erweitert das überlieferte Tonmaterial durch Mikrotonalität und gelangt so zu neuen Klangwelten, in denen Obertonspektren das harmonische Geschehen bestimmen.

Giorgio Netti wiederum untersucht zunächst einmal sein Instrumentarium. Wie ein Forscher von einem anderen Planeten, dem zufällig eine Geige in die Hand gefallen ist, nimmt er das Instrument in seine Einzelbestandteile auseinander, um es daraufhin wiederum neu zusammenzusetzen. Resultat dieses Dekonstruktionsprozesses ist die Entstehung einer ganz individuellen Klangwelt, die in einem irisierenden Bereich zwischen Klang und Geräusch angesiedelt ist.

Solche komplexen Partituren adäquat in Klang umzusetzen ist nur wenigen Ensembles vorbehalten und auch nur solchen, die sich bedingungslos auf diese Musik einlassen wollen.Und so freue ich mich, Ihnen an diesem Abend das KAIROS QUARTETT aus Berlin präsentieren zu dürfen, die mit der CD-Einspielung von Georg Friedrich Haas’ 2. Streichquartett 2005 den Preis der Deutschen Schallplattenkritik einheimsen konnten.

Dr. Karlheinz Essl
Musikintendant des SCHÖMER-HAUSES


PROGRAMM

Georg Friedrich Haas (* 1953): Zweites Streichquartett (1998)

Giorgio Netti (* 1963): ) place ( (2000/2001)

I ostinato (Ostinato)
II memoria (Erinnerung)
III espressione (Ausdruck)
IV saturo (gesättigt)
V cuore (Herz)
VI curvo atemporale (zeitlose Kurve)
VII apparizione (Erscheinung)


Ausführende

Kairos Quartett (Berlin)

Wolfgang Bender: Violine
Chatschatur Kanajan: Violine
Simone Heilgendorff: Viola
Claudius von Wrochem: Violoncello



WERKKOMMENTARE

Bernhard Günther:
Zu Georg Friedrich Haas' Zweitem Streichquartett

Es wäre ein grobes Missverständnis, beim Hören der ausgedehnten Klangflächen im zweiten Streichquartett von Georg Friedrich Haas in schwelgerische Akkordseligkeit zu verfallen. Haas ist – selbst inmitten frappierend konsonanter Klangminuten – kein Komponist von Idyllen. Nicht himmlische Längen, sondern bestenfalls beunruhigende Verzerrungen des Zeitablaufs liegen in den Akkordflächen des zweiten Streichquartetts. Die skeptische Reflexion des „Zurückfallens in überwunden geglaubte Zustände“ (Haas), der Vergeblichkeit durchdringen das Schaffen des Komponisten – bis hinein in neuere Werktitel wie „In vain“ oder „Wer, wenn ich schriee, hörte mich...“ Im zweiten Streichquartett spielt er dabei so bewusst wie distanziert mit den zahlreichen Assoziationen, die im kollektiven Gedächtnis verknüpft sind mit den Septakkorden, den Quint-, Quart- und Tritonus-Schichtungen, den bordunähnlichen Basstönen, den Teiltönen des Obertonspektrums, dem langsamen Akkordaufbau, den Arpeggien, schließlich mit dem Vibrato, dem in der Partitur gerade noch ein „non troppo“ beigegeben wird. „Mein zweites Streichquartett verbindet tonale, scheinbar historisierende Klangelemente mit mikrotonalen Verschiebungen, zeitlichen Dehnungen und Stauchungen und einem zum Teil virtuosen, flirrenden Klangbild. Immer wieder schimmert die Tradition durch, aber sie wird als etwas Verlorenenes, Entferntes, Getrübtes wahrgenommen werden.“ (Haas) Mikrotonale Tonhöhenumspielungen, Glissandi, Verschiebungen oder auch einfach die schiere, erstaunliche Dauer einzelner Klänge verzerren das Gefüge immer dann, wenn Assoziationen an Sphärenklang oder – vade retro! – Meditationsmusik schon fast in greifbare Nähe zu kommen drohen. Steigerungen irritieren, immer wieder derselbe Ton wird mit wachsender Intensität wiederholt, aufgetürmt, das Unisono schaukelt sich auf, wird zerfasert, auf neuen Akkordflächen findet das Quartett wieder zusammen.

Mit dem reinen Obertonakkord verbindet Georg Friedrich Haas nicht Perfektion, sondern Leblosigkeit, Erstarrtheit. Es geht Haas nicht um die „Verbesserung“ des temperierten Systems, etwa in Richtung auf den offensichtlichen Schönklang der „Just intonation“, der reinen Stimmung La Monte Youngs. Immer wieder werden „perfekte“ Obertonspektren zerstückelt, miteinander verschränkt, im zweiten Quartett auch mit Geräuschen konterkariert. Und auch wenn Haas die Erfahrungen der – im Übrigen recht unterschiedlichen – Harmonik-Konzepte von zumindest Ivan Wyschnegradsky, Alois Hába, Giacinto Scelsi, James Tenney und Harry Partch in seinem Komponieren nutzt, erkundet er sie wie ein unwegsames Gelände, fernab der ausgetretenen Pfade, die durch temperierte Tonvorräte verlaufen. „Eine Tradition mikrotonaler Musik gibt es nicht. Bis weit ins 20. Jahrhundert haben alle KomponistInnen, die mikrotonal komponierten, von neuem angefangen. Auch heute noch gilt es als etwas Ungewöhnliches, Mikrotöne einzusetzen. Es ist nötig, zu begründen, warum man Töne außerhalb des temperierten Systems verwendet.“ (Haas, ÖMZ 6/1999)

Die Tradition tonaler Musik wird in manchen Kompositionen von Georg Friedrich Haas unmissverständlich heraufbeschworen, so im „Torso für Orchester“ (1999/2000) nach der unvollendeten Klaviersonate D 840 von Franz Schubert (denn schon bei Schubert findet Haas Septakkorde von irritierender Ausdehnung) oder in den versprengten Mozart-Zitaten in der Streichorchester-Komposition „sodaß ich‘s hernach mit einem blick gleichsam wie ein schönes bild ... im geist übersehe ...“ (1990/1991). Das zweite Streichquartett liegt in seiner Klangsinnlichkeit am Schnittpunkt dieser beiden Sphären, der scheinbaren Vertrautheit mit der Musikgeschichte einerseits und der Fremdheit, Traditionslosigkeit, Weglosigkeit mikrotonaler Harmonik andererseits.

Das „Zweite Streichquartett“ entstand auf Anregung des Wiener Konzerthauses für das Hagen Quartett und wurde von diesem am 24. März 1998 im Konzerthaus Wien uraufgeführt.

aus: Programmheft zum Porträtkonzert G. F. Haas im Rahmen Konzertreihe Fünf Fenster auf das Streichquartett seit 1950, kuratiert und ausgeführt vom Kairos Quartett, Berlin.


Anouk Jeschke:
Zum Streichquartett ) place ( von Giorgio Netti

Ansatzpunkte für das von den Züricher Tagen für Neue Musik 2001 in Auftrag gegebene Streichquartett ) place ( waren die Auseinandersetzung mit der physischen Qualität des Streicherklanges und die Erforschung des Streichinstrumentes. Schon zuvor hatte Netti sich mit Instrumentenkörpern beschäftigt und seine Instrumentalstudien kompositorisch verarbeitet

Die Materialität des Streichinstrumentes, das Holz von Resonanzkörper und Bogen, die Bogenhaare, das Metall der Saiten, Spannung und Druck, Reibung und Vibration inspirierten den Komponisten zu Klangexperimenten, welche schließlich in der Idee der „erweiterten Stege“ mündeten. Der Steg, als Brücke zwischen der schwingenden Saite und dem Resonanzkörper, aber auch als eine die vier Saiten untereinander verbindende Brücke, geriet ins Zentrum der Aufmerksamkeit. „Das Bild der Brücke geht auf die Antike zurück, musikalisch und nicht nur; im 19. Jahrhundert wurde im Detail versucht, seine Wurzeln zu erhellen. Ich glaube, seine immer noch aktuelle Kraft besteht darin, dass die Brücke ein dritter Ort ist zwischen den beiden ist, die sie zusammenbringt, ein ‚anderer‘ Ort, schwebend, vielleicht exakt der Ort der Entfremdung: es geht nicht darum, die unterschiedlichen Gewohnheiten des benachbarten Gebietes zu erforschen, auf einer Brücke gibt es keine Gewohnheiten, nur die Leere, die darunterliegt, für einen Augenblick wird sie erfüllt.“ Die Brücke (der Steg) gilt Netti als ein Symbol des Verbindenden, aber auch des Dazwischen-Liegenden, als ein „Ort der Entfremdung“ oder ein „Nicht-Ort“.

Der Klang am Steg faszinierte ihn, Bogengeschwindigkeit und Bogendruck bestimmen an dieser Stelle in besonderem Maße den Obertonreichtum des Klangs. Aus dieser Zone sieht er unzählige „Wunderlichkeiten“ hervorgehen, sie ist allerdings durch allzu häufige Frequentierung schon weitgehend zu einem leeren rhetorischen Ort geworden. „Trotz allem kehrte beim Spielen mein Bogen immer wieder an diese Stelle zurück, um diese Vibration zu erzeugen, die mir über die Schwingung der Saite und der Tonhöhe hinauszugehen schien: ich spürte eine Gegenwart, ich suchte sie... Sie begann mir vom Haar, das atmet, zu sprechen, dann von den anderen Saiten, vereint, die hier nahe am Steg, über ihm, erklangen; der Steg ist traditionellerweise sozusagen eine Kante, daher das, was hier passiert, verdichtet ist und anscheinend ununterscheidbar im Detail; ich habe mich gefragt, was geschehen würde, wenn er breiter wäre, wenn die Saiten mehr als einen Punkt gemeinsam hätten, einen Bereich vielleicht? So entsteht die Idee von den erweiterten Stegen und von der unendlichen instrumentalen Erforschung, die von diesen ausgeht, die Landkarten des Steges, der Platz.“

Normalerweise nur ein schmaler Grat, auf dem der Bogen wandern kann oder dem er sich von verschiedenen Seiten nähert, wird der Steg nun künstlich erweitert, durch die Präparation des Instrumentes mit verschiedenen Materialien. Zwischen die Saiten werden nach einem genau vorgeschriebenen Muster teilweise geknickte feste und flexible Telefonkarten, Plasikstreifen und dünnes Metall geklemmt. Auf diese Weise entsteht eine Vielzahl von Stellen, an denen mit den Haaren oder dem Holz des Bogens gestrichen bzw. gezupft werden kann.

Der „Bogen als Vermittler“ nimmt ebenfalls eine besondere Stellung ein, er ist „Haar, Grat, Profil, Schranke, bewegliche Grenze, Maß, wie ein instrumentales Sinnesorgan, ohne das alles schweigt, ununterscheidbar, kompakt; der Bogen ist der Tastsinn, er hat eine Handfläche und einen Handrücken, eine Innen- und eine Außenseite, zwei Gesichter also, das zweite ist das antike, extreme, absolut nicht dehnbare, hölzerne (das Holz): es hält die der geschriebenen Kultur vorausgehenden Erinnerungen zusammen, vielleicht gerade wegen dieser Kraft des Zusammenhalts spannt er die nachfolgende Kultur (die Haare).

Der Teil des Bogens, mit dem gespielt wird (Holz oder Haar), der Winkel zur Saite, die Kontaktstelle auf der Saite bzw. den Karten, die Strichgeschwindigkeit und der Bogendruck: aus all diesen Parametern resultiert ein Kaleidoskop von neuartigen, fast elektronisch verstärkt wirkenden Klängen, ein sehr geräuschhaftes, das Materielle betonendes Klanggeflecht.

Die Komplexität von ) place ( liegt in den äußerst differenzierten Arten der Klangerzeugung auf den präparierten Streichinstrumenten. Um die Polyphonie der Stimmen möglichst deutlich wahrnehmbar zu machen, sollen sich die Spieler in größtmöglicher Distanz zueinander postieren. Netti wünscht sich zudem eine nicht zu trockene Raumakustik, die es den verschiedenen, teilweise an der Grenze zur Unhörbarkeit liegenden Klängen erlaubt, sich in idealer Weise zu entfalten. Der Neuartigkeit seiner Sprache entsprechend entwickelte Netti sorgfältig eine spezielle Notation, bei der er die Tonhöhen dem dominierenden Aspekt der Klangerzeugung gemäß in einem separaten System unterhalb der Vorgaben für die vier Saiten, besonderer Spielweisen und der jeweiligen Kontaktstelle auf oder neben den Karten anordnete.

Als eine Inspirationsquelle für mehrere seiner Stücke nennt Netti das plastische Werk des Schweizer Künstlers Alberto Giacometti (1901-1966). Die Auseinandersetzung mit räumlichen Problemen zieht sich als ein roter Faden durch Giacomettis Gesamtwerk. In seinen nach 1945 entstandenen Plätzen mit menschlichen Figuren ist das zwingende Raumerlebnis noch das gleiche, wie in seinen früheren surrealistischen Arbeiten. Fast auf ihr Skelett reduziert, durchqueren die Figuren ausschreitend den Platz, jede für sich durch ihre Bewegung eine eigene Richtung markierend. Bei anderen Plätzen wachsen sie wie aus dem Boden auf, stehen gebannt wie Bäume; jede Bewegung zur Seite ist ihnen versagt und nur ihre „Hoheit“ bleibt ihnen als Dimension. Eine dieser Plastiken mit dem Titel „Komposition mit drei Figuren und einem Kopf“ (1950) regte die Komposition von ) place ( direkt an: „Eines Tages in einem Museum, hinter meinem Rücken, nahm ich etwas wahr, das mich im nächsten Raum erwartete. Ich drehte mich um und sah dort den winzigen, riesigen Platz. Seine Grundfläche betrug nicht mehr als 50 cm2, aber die drei Figuren und der Kopf ohne Körper, seine einzigen Bewohner, dehnten ihn mehr aus als im Freien. Der Kopf wurde ein Violoncello, zwei Violinen und Viola die drei stehenden Figuren.“ Das Violoncello hat dementsprechend eine hervorgehobene Rolle in dem Streichquartett erhalten.

Mit dem Titel des Streichquartetts verbindet der Komponist eine ganze Welt von Erscheinungen, nur teilweise gehen diese Assoziationen auf sein Verständnis der Kunst Giacomettis zurück. Der Zeichensetzung (den invertierten Klammern) kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. „Der Platz ist kein fester Punkt, er ist eine Leere, die man mitteilt und abgrenzt. Er ist der Raum, der für die Begegnung der Menschen untereinander und insbesondere für die Begegnung zwischen der Natur und dem Artifiziellen da ist: er öffnet sich dorthin, wo das Zerstreute zusammengehalten wird, wo das bewegliche Fragment wieder Teil eines Mosaiks wird, zur Strömung wird, die sich verlangsamt und ausbreitet. [...] Der Platz schweigt, er ist ein gespanntes Trommelfell, das beim Hören Klang wird. Die Umkehrung der äußeren Glieder im Titel ) place ( setzt die unendliche Abtastung der den Platz durchquerenden Augenblicke in Klammern, um zu einer möglichen Matrix dieser Augenblicke zu gelangen. Alles ist also in Klammern, abgesehen von dem Ort des Geschehens, da alles an ihm sich orientiert und in ihm wiedergeboren wird. ) ( bedeutet zwei Flügel, zwei Ohren, zwei Brücken, zwei Lächeln, und ein Ort in der Mitte: der menschliche/instrumentale Körper mit seiner Erinnerung, die dort enthaltenen Resonanzen werden mit den Jahren Materie, ihrerseits Leben.

) place ( entspinnt sich mittels sieben verschiedener „Strömungen“ oder Kraftlinien, die der Komponist als für ihn relevante Fragen aus den Spuren der Tradition herausgefiltert hat. Die Auseinandersetzung mit den Meisterwerken der Gattung Streichquartett ergibt eine „gebildete Sammlung von Fragmenten“, aus denen zitiert werden könnte, oder aber, wie es Netti vorzieht, von denen abstrahiert wird, um ihre einzelnen „Anrufe“ neu zu hören. Die Gattung ist traditionell am stärksten von ihrem jeweiligen Autor geprägt: das Streichquartett als ein vielfach zuvor begangener Ort, von Spuren übersät, so dass es fast unmöglich scheint, ihn heute noch zu durchqueren. Die Kontinuität der Geschichte des Streichquartetts ist in Nettis Augen dennoch gegeben, daher die Notwendigkeit, zu abstrahieren und neu zu hören.

Diese sieben Strömungen kehren als Überschriften der sieben Abschnitte des Streichquartetts, die meist ohne Pause ineinander übergehen, wieder: I ostinato (Ostinato), II memoria (Erinnerung), III espressione (Ausdruck), IV saturo (gesättigt), V cuore (Herz), VI curvo atemporale (zeitlose Kurve) und VII apparizione (Erscheinung). Diese Kraftlinien dominieren jeweils einen der sieben Teile von ) place ( und lassen sich in der Reihenfolge von der höchsten bis zur niedrigsten Dichte ordnen:

saturo: maximale materielle Dichte in Abwesenheit von Rhythmus und Pulsation, tendenziell un-durchsichtig.
ostinato: hartnäckige Wiederholung eines Motives, das zu einem hypnotischen Pulsieren neigt. memoria: in diesem Fall als Synchronie (gleichzeitiges Klingen) gedacht, Gleichzeitigkeit von jetzt und damals, dazu breiter Gesang.
cuore: die Beweglichkeit des Streichinstruments, seine Fähigkeit, ohne Unterbrechung die klassischen Parameter von Klangfarbe (Abstand zum Steg, aber nicht nur), Höhe (durch die Abwesenheit von Tasten) und Dichte zu transformieren, schließlich seine fast gänzliche Unabhängigkeit vom Atem; und das Quartett, indem es vier in einem ist (oder besser drei plus eins in einem, womit das Cello gemeint ist, s.o.), verursacht die Summe, die Subtraktion, das Produkt der einzelnen Teile und bringt sie dennoch immer wieder zur Einheit.
espressione: die Augenblicke, die das Ganze enthalten, dieser Zustand von höchster Kommuni-kation der Materie, in dem ein einzelner Klang zur Wiedererkennung der Musik reicht, in der er enthalten ist.
apparizione: das Auftauchen, die Manifestation von etwas in sich vollendetem, „reine Präsenz“, die jede Beziehung von Ursache und Wirkung auslöscht und damit auch das Frühere und das Folgende, hebt uns zu einem Jetzt ohne Grenzen.
curvo atemporale: das Jenseitige, der Raum innerhalb und hinter jeder Form, die Abwesenheit einer Spur, zu der jede Form/Individualität fliehen möchte und auf die sie verweist

Jeder Satz enthält verschiedene „Hörpunkte“, das heißt Abschnitte, die sich wieder aus den unterschiedlichen Einzelströmungen zusammensetzen. [...]

Giorgio Nettis Werk setzt Tradition fort, aber verwandelt, neu geformt, neu ausgerichtet: „Mich interessiert die Energie, die sich aus Erhaltung und Bewahrung entwickelt; es ist diese energetische Präsenz, die für mich den Unterschied zwischen „Zustand“ und „Stasis“ bezeichnet; ich spreche also nicht von Unbeweglichkeit, die durch die Abwesenheit einer tätigen Energie (Kraft) entsteht, sondern von einem potentiellen Energiezustand, der sich bis in die Jetztzeit erhält (Gegenwärtigkeit), in jedem Augenblick neu, der Dank seiner inneren Kraft während des Hörens die Erinnerung verbrennt, als Transportmittel einer kontinuierlichen Oszillation zwischen Vergangenheit und Zukunft, als Mittel der formalen Verarbeitung, der Rekonstruktion der Form.“ Im Gegensatz zu traditioneller Musik macht Netti keinen Unterschied zwischen Tönen und Geräuschen, für ihn „existieren nur mehr oder weniger komplexe Vibrationen in Abhängigkeit vom Kontext, wie/wo/wann man sie hört.“ Durch diese Art des „gerichteten Hörens“ gelingt es ihm, auch Alltagslaute, zum Beispiel Maschinen- oder Verkehrsgeräusche, als Musik wahrzunehmen und zu einer allumfassenden, poetischen Weltsicht zu gelangen: „in meinem Werk suche ich den Sinn, den mehr als logischen, intuitiven Sinn, der sich ausbreitenden Fragmentation aller Tage, im Hören, in der Musik, in Orten, Vorstellungen, Schriften, im Lesen, in Unterhaltungen, Beziehungen, Bewegungen, Haltungen...

aus: Programmheft zum Thema "Komplex" im Rahmen Konzertreihe Fünf Fenster auf das Streichquartett seit 1950, kuratiert und ausgeführt vom Kairos Quartett, Berlin.


BIOGRAPHIEN

Georg Friedrich Haas wurde am 16. August 1953 in Graz geboren und ist in Tschagguns (Vorarlberg) aufgewachsen. An der Musikhochschule Graz studierte er von 1972 bis 1979 Komposition u. a. Gösta Neuwirth und Ivan Eröd, Klavier bei Doris Wolf sowie Musikpädagogik. Von 1981 bis 1983 setzte er seine Studien bei Friedrich Cerha an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Wien fort. 1980, 1988 und 1990 besuchte Haas die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, 1991 einen Informatikkurs am IRCAM in Paris. Am Beginn seines Komponierens noch stark von mathematischen Modellen beeinflusst, folgte nach “quasi una tanpûra” für Kammerensemble eine Abkehr von strenger Konstruktion zugunsten der freien Entfaltung klanglicher Möglichkeiten, die in den Werken Morton Feldmans und Luigi Nonos ihre Vorbilder haben. Neben der Verwendung von Mikrointervallen, die er am Schaffen Ivan Wyschnegradskys, Giacinto Scelsis und James Tenneys studiert hat, sind es auch historische Rückgriffe, die Haas zur Bereicherung seiner Tonsprache riskiert. Als Stipendiat der Salzburger Festspiele 1992/93 komponierte er sein erstes Orchesterstück “Descendiendo”. 1992 erhielt der Komponist den Sandoz-Preis, 1995 den Förderungspreis für Musik des Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst, 1998 den Ernst Krenek Preis der Stadt Wien für “Nacht”, 2002 den Musikpreis der Stadt Wien. Haas´ Werke standen auf den Programmen der Festivals Wien Modern, Musikprotokoll Graz, Bregenzer Festpiele, Musik Biennale Berlin, Wittener Tage für Neue Kammermusik, Insel Musik Berlin, Musik der Zeit Köln, Frankfurt Alte Oper, Darmstädter Ferienkurse, Biennale Venedig, Akiyoshidai Festival (Japan), Festival d´Automne in Paris, Huddersfield Festival und wurden u. a. in Zürich, Sevilla, Barcelona, Royaumont, Oslo und New York aufgeführt. Georg Friedrich Haas publizierte ab 1980 wissenschaftliche Aufsätze über Werke von Luigi Nono, Ivan Wyschnegradsky, Alois Hába und Pierre Boulez.


Giorgio Netti, 1963 in Mailand geboren, studierte bei Sandro Gorli am Conservatorio G. Verdi di Milano und besuchte Seminarien der Abteilung zeitgenössische Musik der Mailänder Civica Scuola di Musica mit Brian Ferneyhough, Gérard Grisey, Emmanuel Nunes, Wolfgang Rihm, Iannis Xenakis und mit dem Arditti Quartett, P.Y. Artaud, H. Bok, G. Schiaffini, S. Scodanibbio und B. Webb.

Sein kompositorisches Schaffen galt bisher Soloinstrumenten (darunter der abendfüllende Zyklus „necessità d’interrogare il cielo“ für Saxophon solo, den Marcus Weiss 2003 im Depot der Sammlung Essl aufgeführt hat) und Instrumentalensembles.

Was mich interessiert, ist die Besonderheit des instrumentalen Körpers: Das Instrument als ein Fluchtpunkt dessen, wohin sich eine Lesart der Welt, im Klang, richtet. Mich interessiert, wie man die unerwartetsten Strömungen eines verankerten Traditionalismus mit dem größten experimentellen Wagnis zusammenbringt auf einem unveränderten Instrument. Was für mich ein Musikinstrument von einem Klangobjekt unterscheidet, ist genau diese Möglichkeit sehr verschiedener Ereignisse, und dass ein Musikinstrument, durch die Einheit des vibrierenden Körpers, der Modulation seiner örtlichen Besonderheit folgend, eine unglaubliche Kontinuität zwischen den Extremen ermöglicht.


KAIROS QUARTETT

Das in Berlin ansässige Kairos Quartett widmet sich seit seiner Gründung 1996 ausschließlich der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Dabei alternieren die beiden Violinen. Richtungweisende Kompositionen nach 1950 und Uraufführungen stehen im Mittelpunkt seiner Tätigkeit. Kommunikative Offenheit ist Programm: es wird der enge Kontakt zu Komponisten gepflegt, wie auch – durch Workshops und Gesprächskonzerte – die Nähe zum Publikum.

Ein Beispiel für Letzteres ist die Konzertreihe „Fünf Fenster...“, die mit Mitteln des Hauptstadtkulturfonds in der Saison 2001/2002 in der Berliner Kulturbrauerei stattfand; zu den eingeladenen Kompo-nisten gehörten Brian Ferneyhough, Georg Friedrich Haas, Helmut Lachenmann und Alvin Lucier.

Das Quartett hat Workshops für Musik-Studierende an verschiedenen Hochschulen/Institutionen (Bergen/Norwegen, Berlin, Mexico City, Zürich) durchgeführt.

Seine zahlreichen Auftritten führ(t)en das Kairos Quartett unter anderem zu den Internationalen Ferienkursen in Darmstadt, zum Ultraschall-Festival Berlin, zum Eclat-Festival, zu Wien Modern, nach Huddersfield und auf Festivals in Belgien, Frankreich, Finnland, Großbritannien, Italien, Mexiko, in den Niederlanden, Norwegen, Österreich, der Schweiz und in der Ukraine. Auch bei den Berliner Festwochen und den Salzburger Festspielen brachte Kairos Neue Musik zu Gehör. 2005 spielt das Quartett erstmals auch beim Warschauer Herbst, beim Festival Cervantino in Guanajuato/Mexiko und beim Festival d’Automne.

Das Kairos Quartett erhielt das Kranichsteiner Stipendium (1996), Kompositionsaufträge des Berliner Senats (1997, 2003) und den Förderpreis der Ernst von Siemens Stiftung (2000). 1998 bis 2003 wurden Projekte durch den Deutschen Musikrat gefördert. 2001 war das Quartett Stipendiat der Akademie Schloss Solitude. Für seine Einspielung der Quartette von G. F. Haas erhielt das Quartett den Preis der Deutschen Schallplattenkritik Bestenliste 1/2005.

Auf Tonträgern ist die Arbeit des Quartetts u.a. durch zahlreiche Rundfunk-Mitschnitte und -Produktionen für HR, BR, SWR, ORF, RAI, SR, BBC und DeutschlandRadio dokumentiert. Außerdem liegt das 5. Streichquartett von V. Janárceková auf einer Porträt-CD (Pro Viva) vor. Ein Interpretenporträt erschien 2001 bei Edition Zeitklang/Adenbüttel mit: L. Berio Sincronie, J. Estrada Canto mnémico, G. Kurtág op.1 und K. Müller Thorn. 2004 erschien eine CDs mit den Streichquartetten Nr. 1 und 2 von G. F. Haas (Edition Zeitklang).

Kairos, der Gott des günstigen Augenblicks, verkörpert den subjektiven Zeitbegriff.
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