EX ORIENTE LUX

Ensemble Wiener Collage

EX ORIENTE LUX

Ensemble Wiener Collage
Sa, 20.03.2004, 19:30 Uhr

Das Schömer-Haus

Der Orient übt seit jeher eine ambivalente Wirkung aus: Eine uns diametral entgegengesetzte Welt, die fasziniert, aber auch Ängste und Widerstände schürt. Darin erscheint alles anders: die Religion, das Verhältnis zwischen Mann und Frau, die politischen Systeme, die Rolle des Individuums, die Kunst… Und doch stand der Orient an der Wiege unserer westlichen Kultur und hat sie wesentlich geprägt.
Der Orient übt seit jeher eine ambivalente Wirkung aus: Eine uns diametral entgegengesetzte Welt, die fasziniert, aber auch Ängste und Widerstände schürt. Darin erscheint alles anders: die Religion, das Verhältnis zwischen Mann und Frau, die politischen Systeme, die Rolle des Individuums, die Kunst… Und doch stand der Orient an der Wiege unserer westlichen Kultur und hat sie wesentlich geprägt.

In Zeiten, wo die westliche Ideologie eine globale Vorherrschaft anstrebt, dient der Orient – obwohl von gewissen Mächten als Feindbild heraufbeschworen – so manchem als Gegenentwurf, in dem sich unsere Sehnsüchte nach dem Anderen, dem Ursprünglichen und Unverbrauchten widerspiegeln.

Auch in der Musik sind wir heute an einem Punkt angelangt, wo das Rekurrieren auf das Erbe der Alten Meister und seine rigorose Fortführung in eine Sackgasse gekommen zu sein scheint. Wen wundert’s, wenn da Stimmen laut werden, die eine Neubesinnung – aus dem Geist des Orients – fordern.

Eine solche Stimme war der Grieche Iannis Xenakis, der bereits in den 50er Jahren den sich damals etablierenden Serialismus attackiert hat und als Gegenrezept die Besinnung auf altgriechische Musikkonzepte (die auf den Naturwissenschaften und Mathematik fußten) empfahl. Sein Landsmann Anestis Logothetis (dessen 10. Todestag wir heuer gedenken) schlug in eine ähnliche Kerbe und entwickelte als Gegenmoment zu der immer komplizierter werdenden musikalischen Notenschrift graphische Verfahren, die nicht minder komplexe klangliche Ergebnisse zeitigen. Aber auch die darauffolgende Generation setzt sich kritisch mit dem westlichen Erbe auseinander, das ihnen an der Wiege gesungen wurde: Wladimir Pantchev bezieht indische Ragas in seine Kompositionstechnik mit ein, und Simeon Pironkoff (ebenfalls Bulgare) möchte Musik nicht als Ideenträger missbrauchen, sondern ihren Materialaspekt in den Vordergrund stellen. Dass der Balkan (und damit der Orient) gleich hinter dem Rennweg beginnt, soll bereits Metternich geäußert haben: Im Schaffen des Österreicher René Staar spielt die Auseinandersetzung zwischen westlicher Tradition und ihr entgegengesetzten orientalisch-inspirierten Tendenzen eine tragende Rolle, ähnlich auch wie im Werk des Polen Zdzislaw Wysocki.

Auch wenn der heutige Abend in erster Linie ein musikalisches Erlebnis darstellt – vielleicht kann er dazu beitragen, andere Kulturen nicht als feindlich, sondern als bereichernd und ergänzend wahrzunehmen und diese Erkenntnis in unsere persönliche Lebenswirklichkeit zu integrieren.

Dr. Karlheinz Essl
Musikintendant des SCHÖMER-HAUSES



Programm


Simeon Pironkoff (* 1965)
Einstellung I-III aus dem Zyklus "Sujets"

Einstellung I: Bassklarinette, Posaune und Violoncello
Einstellung II: Bassklarinette, Violoncello und Klavier
Einstellung III: Posaune, Violoncello und Klavier

Anestis Logothetis (1921-1994)
Kulmination I
Fassung für Klavier, Akkordeon, Cello, Klarinette und Bassklarinette

René Staar (* 1951)
Structures V
für Violine, Klarinette und Klavier

Wladimir Pantchev (* 1948)
Lalita-Gesänge - Uraufführung
für Solo-Posaune, 2 Klarinetten, Klavier, Akkordeon, Violine und Violoncello
Uraufführung

Zdzislaw Wysocki (* 1944)
Aus den Etüden op. 56

op.56/Nr.11 für Klarinette Solo
op.56/Nr.9 für Violine und Akkordeon
op.65/Nr.8 für Klarinette und Bassklarinette - Uraufführung
op.65/Nr.9 für Violine, Klarinette und Bassklarinette - Uraufführung

Iannis Xenakis (1922-2001)
Dikthas
für Violine und Klavier


Ausführende

Ensemble Wiener Collage

René Staar: Violine
Susanne Müller: Violoncello
Stefan Neubauer: Klarinetten
Reinhold Brunner: Klarinetten
Balázs Sebestyén: Posaune
Alfred Melichar: Akkordeon
Johannes Marian: Klavier

Leitung: René Staar



Christian Baier
MATERIAL UND KOSMOGONIE

„Ex oriente lux“ – das Licht des Lebens, das aus dem Orient, der biblischen Wiege der Menschheit, dem „Garten Eden“, in das europäische Abendland herüberstrahlt. Was die frühchristliche Kirche als einen der ersten Slogans ihres neuen Glaubens prägte, hat nach der Verteufelung des Islams durch Kreuzzüge und Türkenkriege und nach der Verherrlichung der orientalischen Sinnenfreude, wie sie Goethe im „Westöstlichen Diwan“ proklamierte, heute – angesichts des Schlagsworts vom „Unruheherd Naher Osten“ und der globalen Terrorhysterie – noch weitere Facetten erhalten. „Ex oriente lux“ – ein abendländischer Begriff, der gleichzeitig Europa als geistiges Zentrum in Frage stellt und sich als antipodisches Gegenargument in den kulturhistorischen und ästhetischen Diskurs einbringt. In Zeiten der kulturellen Stagnation, in der Ära des geistigen Innovationsstops wird der Blick über den eigenen Tellerrand zur mentalen Überlebensnotwendigkeit. Jene Impulse, die Künstlerinnen und Künstler aus dem nicht westlich beeinflussten Ausland, also dem Vorderen Orient, aber auch dem südosteuropäischen Raum in die heimische Kultur eingebracht haben, rücken heute vermehrt in den Mittelpunkt der Forschung. Das Fremde, das Andere als Movens der Veränderung des eigenen Selbstverständnisses initiiert – durch die Konfrontation von Kulturen und die Hinterfragung scheinbar unveränderbarer Denkparameter – künstlerische Mutationsprozesse...


Eine Irritation in irritierenden Zeiten, so könnte man die Uraufführung von Anesthis Logothetis’ „Kulmination“ im Jahr 1961 durch das Ensemble „die reihe“ bezeichnen. „Es ist ein in Planquadrate eingeteiltes Blatt, in denen die unterschiedlichsten Zeichen eingetragen sind“, erinnert sich Friedrich Cerha, „also etwa Punkte (kurz, pizzicato), Keile (gehackt), weiße Kreise mit Längenzeichen (flageolett) etc. Man konnte die Quadrate in beliebiger Richtung spielen, von links nach rechts, von rechts nach links, von oben nach unten, von unten nach oben und diagonal. Tonhöhen sind in diesem Stück nicht exakt fixiert. Die obere Begrenzung des Quadrats bedeutet die höchsten Tonhöhen, die untere die tiefsten. Dazwischen gibt es Schätzwerte.“

Logothetis’ Komposition war – und ist es [unter anderen Vorzeichen] noch heute – eine bewusste künstlerische Stellungnahme gegen die Tendenzen der Serialität und – noch weiter gefasst – gegen die Akribie des Festhaltens. Bereits Ende der Fünfziger Jahre hatte die Serialität allmählich an ihrem eigenen Regelwerk, an ihren selbstgenerierten Ordnungsparametern zu erstarren begonnen. Logothetis selbst meinte auf die Frage nach dem Grund für seine neue Notationsweise im Hinblick auf die „Notationskunstwerke“ der Serialität: „Wozu machen sich die Komponisten so viel Arbeit, wenn man sie hörend nicht registrieren kann?

„Kulmination“, ein Jahr nach der Uraufführung mit dem höchsten Preis ausgezeichnet, den Logothetis’ Heimat Griechenland für zeitgenössische Musik zu vergeben hat, ist kein ideologischer Akt von Cage’schem „Laissez faire“ und atmet – wenn es sich auch formal eines ähnlichen künstlerischen Zugriffs bedient – nichts vom Zufallsprinzip der Aleatorik. In seiner Materialhaftigkeit ist die Komposition präzise und genau. Das Ornament (selbst das gedankliche, das vielen Kompositionen dieser Zeit innewohnt) ist ihr ebenso fremd wie die ästhetische Allegorie, mit der Komponisten dieser Zeit versuchten, durch politische oder soziale Bezüge des weltfremd gewordene Kunstwerk wieder in der Epoche zu verankern, es quasi zu erden. „Kulmination“ verweist die Musik wieder auf ihren Grundstoff, der in seinen unterschiedlichsten – und durch die Tagesbefindlichkeit des jeweiligen Interpreten eben auch noch interpretatorisch subjektiven und individuellen – Aggregatszuständen. Mit „Kulmination“ stellt Logothetis erstmals die Frage nach dem Zusammenhang von Ausdruck und Material, eine Frage, die er mehr als zwei Jahrzehnte später, aufs Existenzielle ausgeweitet, seiner Oper als Titel geben wird: „Aus welchem Material ist der Stein des Sisyphos“ (die am 1. Mai 2004 hier im SCHÖMER-HAUS aufgeführt werden wird).


Ex aequo wurde 1962 der 1. Preis beim Wettbewerb Neuer Musik in Athen auch an Iannis Xenakis vergeben (für die Ensemble-Komposition „Morsima-Amorsima“). So unterschiedlich Logothetis’ und Xenakis’ ästhetischer Zugang zur Musik auch sein mögen, subkutan verbindet sie ein biographisches Detail. Logothetis studierte nach seiner Übersiedelung nach Wien zuerst Bauwesen, ehe er sich der Musik zuwandte, Xenakis war Absolvent des Polytechnischen Institutes in Athen. Ihr ästhetischer Zugriff auf das musikalische Material, das für beide gleichermaßen zum Ausgangspunkt eines kompositorischen Prozesses wird, mag in diesem Detail wurzeln. „Meine Überzeugung ist“, bekannte Xenakis, „dass wir zum Universalismus nicht durch Religion, Emotion, Tradition gelangen, sondern durch die Naturwissenschaften. Das wissenschaftliche Denken gibt mir ein Instrument an die Hand, mit dem ich meine Vorstellungen nicht-wissenschaftlichen Ursprungs verwirkliche. Und diese Vorstellungen sind Produkte gewisser Intuitionen und Visionen.

In den Sechziger und Siebziger Jahren hatte sich Xenakis mit der Übertragbarkeit von mathematischen Methoden auf die Kompositionstechnik auseinandergesetzt. Diese Beschäftigung gipfelte in der Entwicklung eines Computersystems, das graphische Eingaben in Klänge umsetzen konnte. Am Ende dieses Forschungsprozesses, dem Werke wie „Mycènes Alpha“ oder „Voyage absolu des Unari vers Andromède“ ihre Existenz verdanken, steht zugleich auch eine für Xenakis typische Umkehr.

Mit „Dikhtas“ von 1979 wendet er sich von dem auf mathematischen Prinzipien beruhenden Verfahren und zugleich von seiner Vorliebe für ungewöhnliche Instrumentenkombinationen ab. Das Werk ist augen- und vorerst auch ohrenscheinlich ein Duo für Violine und Klavier, bei dem sich der immanente Materialgedanke – vordergründig noch durch Anklänge an Volksmusik aus den Balkanländern „ethnologisiert“ – sukzessive verselbständigt. Zunehmend entfernen sich die musikalischen Linien voneinander, konterkarieren einander in Tempo und Ausdruck, konfrontieren die inhomogensten Ausformungen des zugrundeliegenden musikalischen Materials miteinander und loten es – bis hin zur pulsierenden Mikrotonalität der Violine – aus.


Den im kompositorischen Material vorgegebenen ‚Reibungszuständen’ verschiedene ‚Sujets’ abgewinnen“, umschreibt Simeon Pironkoff die Intention seines Zyklus’ „Sujets“. „Einstellungen I – 3“ sind, so der Komponist, der erste „Minizyklus“ der Serie „Sujets“ für verschiedene Quartettbesetzungen (im konkreten Fall Abfolge von drei Trios, da jeweils ein Instrument bei jeder „Einstellung“ ausgespart wird). Pironkoff strebt eine Durchdringung der äußeren und inneren Erscheinungsformen des musikalischen Materials an. Bezüge entstehen im Subkutanen, wenn er beispielsweise aus der Überlagerung verschiedener rhythmischer Sequenzen Raster gewinnt, die in Intervallstrukturen „übersetzt“ werden, sodass jedes rhythmische Modell einer Intervallproportion aus der Obertonreihe entspricht.

Berechtigterweise nennt Pironkoff Georges Braque als einen Inspirator seines Schaffens: „Ich arbeite mit Materie, nicht mit Ideen. Falls ich manchmal die nackte Leinwand durchscheinen lasse, so mache ich es deswegen, weil ich das Bild beleben möchte, nicht die Idee... Das Bild ist dann vollendet, wenn die Idee ‚übermalt’ ist.“ So bezeichnet er folgerichtig sein kompositorisches Schaffen als „Studien über Reaktionsmodelle“, in denen er – den gedanklichen Ansätzen von Logothetis und Xenakis wesensverwandt – den Spannungspuls des Kunstwerkes als eine Folge der Materialkonsistenz dem Hörer begreifbar macht. Was Braque mit „übermalter Idee“ bezeichnet, drückt sich bei Pironkoff in der pulsierender Klang gewordenen Materialität seiner Kompositionen aus.


Den Werken von Wladimir Pantchev ist ein mikro-kosmischer Zugang zum zugrundeliegenden musikalischen Material eigen. Es ist ein ethnologisches Verhältnis zum Material, denn Material ist bei Pantchev niemals a-historisch, sondern inkludiert einen geschichtlichen Bezug, eine kulturhistorische und soziale Vergangenheit, also eine gesellschaftlich festgeschriebene Tradition. Kompositionen wie „Danov-Lieder“ oder „Projekt Wiener Walzer“ oder das an Schubert orientierte Klavierquintett belegen Pantchevs Umgang mit musikalischen Materialien, seine ethnologisch-kulturelle Synthesearbeit.

Die „Lalita-Gesänge“ für Solo-Posaune und sechs Instrumentalisten von 2003 nehmen Bezug auf die indische Mythologie: Lalita, die tausendnamige Göttin der Fruchtbarkeit und des Wachstums. Nach dem tantrischen Glauben, der dem menschlichen Körper sieben „Lotuszentren“ entlang der Wirbelsäule zuschreibt, ist das Lalita-Chakra auf der linken Brustseite und im Schulterbereich angesiedelt. Das musikalische Material für seine Komposition gewinnt Pantchev – ähnlich wie bereits in seinen „Krishna-Spielen“ – aus dem Lalita-Raga, der sich von den traditionellen 75 Hauptragas der indischen Musik durch seine eigenartige Melodik, vor allem aber in der tradierten Interpretation durch seine „Wildheit“ unterscheidet (Lalita zählt unter der shivataischen Mythologie zusammen mit der „schwarzen Mutter“ Kali zu den „wilden Göttern“).

Der Lalita-Raga wird in Pantchevs Komposition zum Ausgangsmaterial, quasi einer ständig präsenten Folie, über die in verschiedenen Transpositionen Muster gelegt werden, die der abendländischen Musiktradition entlehnt sind. Pantchev selbst spricht von „Choralbearbeitungen“, denen er den Lalita-Raga in einem ornamentalen Breitbandverfahren unterzieht. Das einsätzige Werk, bei dem die Solo-Posaune quasi das Rückgrad des instrumentalen Korpus von drei zweiteiligen Instrumentenkombinationen (Violine und Cello, Klarinette und Bassklarinette, Akkordeon und Klavier) bildet, changiert zwischen metrisch präzise fixierten und freien, beinah improvisatorischen Passagen, in deren Verlauf – wie bei einem Destillationsvorgang – das ursprünglich ethnologische Material immer neue motivische Facetten seiner selbst aufzeigt und durch Klangfilterungen ständig neu „gemasert“ wird.


René Staars musikalisches Schaffen wurzelt in einer Tradition, die Musik als Absolutum setzt. Komponieren bedeutet für ihn die hörbar gewordene Auseinandersetzung mit dem Musischen an sich. Er ist Komponist und Hörer zugleich, der sich in immer neuen und ungewöhnlichen Instrumentenkombinationen Rahmenbedingungen für sein horchendes wie aushorchendes, hörendes wie erhörendes, sein lauschendes Komponieren schafft. Staars Kompositionen sind Gänge in die Tiefe. Sein besonderes Interesse gilt Innen- und Binnenstrukturen, er durchforstet sein musikalisches Material nach Bezügen, die weit ab des herkömmlichen auf tradierten Parametern beruhenden Strukturdenkens beruhen. Aus einem einzige, oftmals mikroskopischen Gedanken entwickelt René Staar in einem unaufhaltsamen Fortschreitungsprinzip seine Kompositionen. Der Ursprungsgedanke, aus dem musikalischen Material gewonnen, quasi der sinnlich erfahrbare Moment des Materialkomplexes, gebiert seine eigenen Facetten, seine „Möglichkeiten“. „Oft ist es schwer“, bekennt Staar, „sich auf einen einzigen Aspekt des Gedankens zu beschränken, und so sind Zyklen und Werkkomplexe entstanden, in denen der Gedanke Raum und Zeit findet, sich unterschiedlich zu formulieren.“ Es sind Werkkomplexe, die, wie Staar meint, „nie fertig werden wollen“, denn ihre Kosmogonie hat eine Eigendynamik, die den herkömmlichen Werkbegriff als ein in sich abgeschlossenes Opus nicht kennt. Es gibt nichts Vollendetes, sondern nur noch das Weiter- und Immer-Weiter-Denken eines Gedankens, der seinen Ort und seine Zeit überall dort findet, wohin er sich selber treibt.

So sind Kompositionen wie „Gemini“, ein Kosmos von Zusammenspielen von jeweils zwei Instrumenten (stets mit der Geige als instrumentaler Konstante) oder den „Inventionen“, die – schon im Titel – den sich ständig weiterformulierenden Gedanken in sich tragen. „Structures“ hingegen offenbart eine andere Seite von Staars kompositorischem denken. Der sechsteilige Zyklus setzt sich aus fünf Stücken unterschiedlichster Kammermusikbesetzung zusammen, die verschiedenen Besetzungen summieren sich dann im finalen sechsten Stück zu einem Ensemble. Die Stücke entstanden während des Postgraduate-Studiums bei Haubenstock-Ramati. „Von besonderem Interesse für mich war damals die Erforschung von Intervallzellen. Die Möglichkeiten, die Intervallzelle zu verändern und die einzelnen Veränderungen so miteinander zu verbinden, dass sich Strukturen daraus ergeben, war für mich ein spannender Forschungsprozeß.


Einen Kosmos ganz anderer Art bilden die „Etüden für Kammerorchester“ von Zdzislaw Wysocki. Was sich auf den ersten Ohrenblick als ein Forschungsfeld des Komponisten hinsichtlich der unterschiedlichsten Besetzungsmöglichkeiten und der Klangkombinationen darstellt, ist werkimmanent dem traditionellen Begriff des Etüdenhaften im Sinne der Studie, der Übung, des Versuchs und Experiments diametral entgegengesetzt. Die „Etüde“ wird bei Wysocki zum Segment eines Ganzen, das die herkömmliche Werkdramaturgie zugunsten eines kosmogonisch-epizentrischen Gedankens verabschiedet. Zurecht hat Thomas Daniel Schlee Wysockis „Etüden“ – bislang entstanden mehr als 65 Kompositionen – als „Miniaturdramolette der Kammermusik“ bezeichnet. Es ist der schwer fassliche Gedanke des Atmosphärischen, der sich in den Stücken stets neu und gänzlich anders ausformuliert, sei es in locker auskomponierter Gewebestruktur, sei es in gerafften Klangblöcken, in irisierenden Klangmustern oder in der filigranen Differenzierung von motivischen und klanglichen Ereignissen, sei es aber auch in der skalpellhaften Präzision des Aphoristischen.

Die „Etüden“ stellen sich – als Werkganzes ebenso wie in ihrer autonomen Singularität – als ein Kompendium musikalischer Gestik dar. Die Geste, die – oftmals nur geringfügige und kaum merkliche – motivische, klangliche, metrische Verschiebung ist das eigentliche Material, das die einzelnen Etüden miteinander in Bezug setzt, sie zum Ganzen verbindet. Wysocki reiht sich mit den „Etüden“ ein in das kosmogonische Prinzip eines durch keine formalen Außenzwänge begrenzten Gedankenfortspinnens, das von der auf Vollendung ausgerichteten Kunstwelt nur Außenseitern zugestanden wird.



Biographien

Anestis Logothetis, geboren 1921 in Burgas, gest. 1994 in Wien, Ausbildung in Thessaloniki, Übersiedelung nach Österreich, Studium an der Wiener Musikhochschule (Ratz, Uhl), um 1958 Entwicklung neuer Notationsmodelle, 1956 und 1958 Rom-Stipendium, 1957 Tätigkeit am Elektronischen Studio des WDR in Köln.

Wladimir Pantchev, geboren in Sofia, Studium an der Musikakademie Sofia, 1986-1987 Studium bei Edison Denisov in Moskau und 1989 bei Friedrich Goldmann in Berlin, 1970-1978 Dirigent an der Nationaloper Sofia, 1987-1991 Professur an der Musikakademie Sofia, seit 1992 Redakteur bei der Universal Edition in Wien, 1992/93 Unterrichtstätigkeit am Konservatorium der Stadt Wien, seit 1995 Kompositionsklasse bei der Lilienfelder Sommerakademie.

Simeon Pironkoff, geboren 1965 in Sofia, Musikstudium in Sofia (Klavier, Musiktheorie), ab 1985 Studium an der Musikhochschule Wien (Dirigieren, Komposition und Korrepetition), zahlreiche Auftritte in Österreich, Italien, Bulgarien, Deutschland und Südamerika, 1992 Gründung des Ensembles "music on line".

René Staar, geboren 1951 in Wien, Musikstudium in Stockholm und Musikhochschule Wien (Kom-position bei Alfred Uhl und Erich Urbanner sowie Roman Haubenstock-Ramati), Meisterkurse bei Nathan Milstein, Konzerttätigkeit als Violinist in Europa und den USA, 1974-1981 Unterrichtstätigkeit an der Wiener Musikhochschule, 1981-1987 freischaffender Musiker, Zusammenarbeit mit zahlreichen in- und ausländischen Orchestern, 1987 Gründung des Ensembles Wiener Collage, seit 1988 Mitglied des Wiener Staatsopernorchesters.

Zdzislaw Wysocki, geboren 1944 in Poznan / Polen, erster Musikunterricht und Musikstudium in Poznan (Komposition bei Stefan B. Poradowski und Andrezej Koszewski), 1969-1970 Auslandsstipendium an der Wiener Musikhochschule (Erich Urbanner), 1978-1980 Studien der elektroakustischen Musik (Dieter Kaufmann), seit 1976 österreichischer Staatsbürger, zahlreiche Preise, Aufführungen u.a. Festivals in Salzburg, Wien, Bratislava, in den USA, Kanada, Japan und Brasilien.

Iannis Xenakis, geboren 1922 in Braila / Rumänien, gest. 2001 in Paris, im 2. Weltkrieg griechischer Widerstandskämpfer, zum Tode verurteilt, 1947 Flucht nach Frankreich, Musikstudium bei Honegger, Messiaen und Milhaud, 1948-1960 Mitarbeiter von Le Corbusier, 1965 Mitbegründer und Leiter des Centre de Mathématiques et Automatique musicale (CEMAMU) in Paris, internationale Lehrtätigkeit, zahlreiche internationale Auszeichnungen.


Ensemble Wiener Collage

Das Ensemble Wiener Collage (EWC) wurde von Erik Freitag, Eugene Hartzell und René Staar mit dem Ziel gegründet, neue Kompositionen in kompetenter Interpretation aufzuführen. Die Arbeit des Ensembles war von Anfang an durch eine grundlegend offene Ausrichtung auf die Kunst der Gegenwart geprägt. Dabei trägt die Tatsache, daß die drei Gründer des Ensembles gleichzeitig Komponisten mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten sind, wesentlich zum Selbstverständnis des Ensembles bei. Die Musiker verweigern sich einer einzelnen stilistischen Richtung und setzen auf das Experiment Vielfalt. Die Dramaturgie der Programme stellt dem zeitgenössischen Schaffen immer wieder Werke der Zweite Wiener Schule gegenüber. Bisher wurden über 150 Werke von über 70 Komponisten in Österreich und international bei Festivals und Symposien in Italien, Frankreich, Spanien, Japan, USA, Türkei, Ukraine, Slowakei, Ungarn und Portugal uraufgeführt. René Staar, Komponist, Geiger und Dirigent, leitet das Ensemble sowohl künstlerisch als auch organisatorisch. Das Ensemble Wiener Collage trat bei wichtigen Musikfestivals in Europa auf (Aspekte Salzburg, Wien Modern, Hörgänge Wien, Budapester Herbstfestival, Festival Kontraste, Musica en Novembro Lissabon, Nuovi Spazi Musicali Rom u. a.). Seit 1993 organisieren die Musiker Dialogsymposien, in denen sie österreichische Komponisten präsentierten. Seit 1998 bestreitet das Ensemble einen eigenen Zyklus im Arnold-Schönberg-Center in Wien. Im Herbst 1999 nahm das Ensemble erstmals an einer Musiktheaterproduktion teil (in Zusammenarbeit mit dem K & K Experimentalstudio).
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