Fremde Welten

Wien modern

Fremde Welten

Wien modern
Sa, 23.11.1996, 20:00 Uhr

Das Schömer-Haus

Das diesjährige Festival "Wien modern" stellt erstmals keine großen Komponistenpersönlichkeiten in den Mittelpunkt, sondern widmet sich diesmal dem Fremden in seinen unterschiedlichsten Erscheinungsformen.
Das diesjährige Festival "Wien modern" stellt erstmals keine großen Komponistenpersönlichkeiten in den Mittelpunkt, sondern widmet sich diesmal dem Fremden in seinen unterschiedlichsten Erscheinungsformen. Dies scheint in Zeiten einer immer größer werdenden und auch medial geschürten Angst vor dem Unbekannten, seien es nun fremdartige Kulturen oder ungewohnte Kunst- und Lebenskonzepte, eine wichtige Auseinandersetzung zu sein. Denn erst in der direkten Konfrontation mit dem Fremden können Vorurteile revidiert und Ängste abgebaut werden, und damit vielleicht Erfahrungen jenseits des eigenen Horizonts gewonnen werden.

Der Komplex des "Fremden" umfaßt aber nicht allein die außereuropäische Musik, sondern stellt auch neuartige musikalische Vermittlungskonzepte in den Blickpunkt der Auseinandersetzung. "Musik im Raum" spielt dabei eine wichtige Rolle, weil hier das gewohnte Terrain des Konzertsaales verlassen wird und die seit Jahrhunderten etablierte Trennung von Musikern und Publikum aufgeweicht wird, was zu einem völlig neuen Verhältnis führt: der Hörer ist nun nicht mehr der bloß Empfangende, sondern wird aus seiner passiven Beobachterrolle hinausgehoben und im Akt des Hörens zu einem aktiven Mitschöpfer.

Aus diesem Grund vergibt das SCHÖMER-HAUS nun schon seit einigen Jahren Kompositionsaufträge an internationale Komponisten, die sich mit dem Phänomen des Raumes auseinandersetzen, und dabei auf die besondere Architektur der dreigeschossigen Halle mit seinen umlaufenden Galerien Bezug nehmen. Zwei dieser Aufträge erleben heute ihre Uraufführung: pas encore plus der deutschen Komponistin Isabel Mundry, und ruin des Briten Richard Barrett.

"Fremde Welten" haben aber davor schon im SCHÖMER-HAUS Einzug gehalten, dessen Präsentation österreichischer Gegenwartskunst diesmal Hermann Nitsch gewidmet ist: die Ergebnisse seiner Ende Oktober hier stattgefundenen 38. Malaktion haben dem Raum ihren charakteristischen Stempel aufgeprägt und ihn um bisher noch unbekannte Dimensionen bereichert.

Dr. Karlheinz Essl
Musikintendant des SCHÖMER-HAUSES



Programm


Isabel Mundry (* 1963)

pas encore plus (1995/96)
für 17 räumlich verteilte Musiker
URAUFFÜHRUNG
Kompositionsauftrag des SCHÖMER-HAUSES


Michael Jarrell (* 1958)

Music for a while (1994/95)
für Ensemble


Richard Barrett (* 1959)

ruin (1994/95)
für sechs räumlich verteilte Instrumentaltrios
URAUFFÜHRUNG
Kompositionsauftrag des SCHÖMER-HAUSES



Ausführende

Klangforum Wien
Dirigent: Pascal Rophé
Klangregie: Peter Böhm



Werke & Komponisten


Isabel Mundry (* 1963 in Schlüchtern/BRD)

Aufgewachsen in Berlin absolvierte sie zwischen 1983 - 91 ein Kompositionsstudium an der Hochschule der Künste Berlin bei Frank Michael Beyer und Gösta Neuwirth und belegt gleichzeitig die Fächer Musikwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte an der Technischen Universität Berlin. Anschließend absolvierte sie ein ergänzendes Kompositionsstudium bei Hans Zender an der Musikhochschule in Frankfurt/Main. Seit 1983 Lehrtätigkeit in den Fächern Kontrapunkt, Harmonielehre und Analyse, zunächst an der Berliner Kirchenmusikschule, anschließend an der Hochschule der Künste in Berlin.

Von 1992-94 lebte sie in Paris, zunächst als Stipendiatin an der Cité des Arts, anschließend als Teilnehmerin am Informatik- und Kompositionskurs des IRCAM. Seit 1994 lebt Mundry als freischaffende Komponistin in Wien und hat seit 1996 eine Professur für Tonsatz und Komposition an der Musikhochschule in Frankfurt am Main inne.

An Preisen und Stipendien erhielt sie u.a. den Boris Blacher-Preis, das Förderstipendium der Musikhochschule Frankfurt/Main, den Kompositionspreis Berlin, den Schneider-Schott Preis und den Kranichsteiner Musikpreis der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik.

Mundrys kompositorische Arbeit konzentrierte sich bisher auf verschiedene kammermusikalische Besetzungen, teilweise unter Einbeziehung von Elektronik, und wurde u.a. vom Ensemble Recherche, dem Klangforum Wien, dem Ensemble Modern und dem Quatuor Simon aufgeführt.

Über pas encore plus, das 1995/96 als Auftragswerk des SCHÖMER-HAUSES entstanden ist, schreibt die Komponistin:

Die annähernd fünfteilige Komposition besteht aus Polyphonien, Teilen in Teilen, Ordnungen, die zur Unordnungen werden, Wegen, die sich verzweigen und Verzweigungen, die wieder zusammenfinden.
Diese permanenten Verwandlungen, die auch die Zeitgestaltung einbeziehen, kommen aus dem Inneren des Ensembles; immer wieder kristallisieren sich einzelne Solisten oder kleinere Gruppen heraus (zumeist mehrere gleichzeitig), bilden vorübergehend Identitäten, verändern sich jedoch mit der Zeit, lösen sich auf oder gehen neue Verbindungen ein - ein Spiel, das einen Koordinator (den Dirigenten) unmöglich macht und der Selbstorganisation des Ensembles bedarf.

pas encore plus bezieht seine Anregungen aus den alltäglichen Wahrnehmungen von Wandelbarkeit und aus der Erfahrung, daß nichts konstant bleibt, außer der Versuch, sich immer wieder neu zu orientieren.


Michael Jarrell

Nach seinem Kompositionsstudium bei Eric Gaudibert am Genfer Konservatorium studierte Jarrell bei Klaus Huber an der Musikhochschule in Freiburg. Zwischen 1986-88 lebte er in Paris und sammelte am IRCAM seine ersten Erfahrungen mit elektronischer Musik. 1988-89 war er Stipendiat der Villa Medici (Rom-Preis) und 1991-93 "Composer in Residence" beim Orchestre National de Lyon. Seit 1993 ist Kompositionsprofessor an der Wiener Musikhochschule.

Jarrells Werkkatalog umfaßt vorwiegend Kompositions für Ensembles, darunter sieben Assonances und viele Werke für Singstimme. In den letzten Jahren entstanden Passages (1992-93) für großes Orchester, Rhizomes (1993) für zwei Schlagzeuger, Klavier und Live-Elektronik und das Monodram Kassandra (1993-94), das 1994 in Paris erfolgreich uraufgeführt wurde und auch bei dem diesjährigen Festival "Wien modern" gegeben wurde.

An weiteren Preise und Auszeichnungen erhielt er den Beethoven-Preis (Bonn 1986), den Gaudeamus-Preis (Amsterdam 1988) und den Preis der Siemens-Stiftung (1990).

Über Music for a while schreibt der Komponist:

Dieses Werk hat einen direkten Bezug zu einer Arie aus dem musikalischen Drama "Ödipus" von Henry Purcell.

Am Anfang war es die Idee des Vergänglichen, die mich beschäftigte, sie sollte der Sinn des Stückes sein. Ich wollte versuchen eine Musik des Augenblicks zu schreiben, die sich ständig neu erfindet, die sich ständig im in Bezug auf das Gehörte erneuert.

Nachdem ich das Stück begonnen hatte, entschied ich mich in nachhinein eine Art Prolog hinzuzufügen, in welchem ich eine direkte Verbindung zu Purcell's Musik herstellen wollte. Dazu habe ich mir die ersten 4 Takte des Continuo dieser Arie ausgeliehen, um sie zu transformieren und daraus diesen Anfang in a-moll zu schreiben (das Original war in c-moll).

Nach und nach wurde dieses Fragment zur Grundlage des Stückes.

Music for a while wurde für das Klangforum Wien geschrieben und ist Klaus Huber zu seinem 70. Geburtstag gewidmet. Die Arbeit wurde vom Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst gefördert.


Richard Barrett

Nach einem Genetikstudium am University College in London studierte Richard Barrett Komposition bei Peter Wiegold. Mit seinen Kompositionen gewann er 1986 den angesehenen "Kranichsteiner Musikpreis" der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik und den "Gaudeamus-Preis" (Amsterdam 1989) für junge Komponisten.

Gemeinsam mit Roger Redgate gründete er 1984 das "Ensemble Exposé". Neben seiner kompositorischen Tätigkeit tritt er mit Paul Obermayer im Improvisationsduo FURT auch als Live-Performer von elektronischer Musik hervor, daneben auch als Mitspieler von George Lewis und Evan Parker.

Seit 1993 lebt er in Amsterdam, wo er am "Instituut voor Sonologie" des Konservatoriums in Den Haag unterrichtet und daneben ein Forschungsprojekt über Live-Elektronik am Amsterdamer STEIM-Studio durchführt.

An letzten Arbeiten seien negatives genannt, ein fünfteiliger Zyklus für 9 Musiker, zu nennen, das vom australischen "Elision Ensemble" auf CD aufgenommen und auch während des diesjährigen Festivals "Wien modern" gespielt wurde. Weiters das Orchesterstück Vanity, das im Januar 1995 mit BBC Orchestra unter Arturo Tamayo in London seine Uraufführung erlebte.

Über ruin, das 1995 als Auftragswerk des SCHÖMER-HAUSES entstanden ist, schreibt der Komponist:

Dieses Werk bildet den elften und letzten Teil einer Reihe von Kompositionen, die unter dem gemeinsamen Titel Fictions firmieren und deren Besetzungen vom Solo bis zu einem 18köpfigen Ensemble reichen.

Einer der "thematischen" Stränge, die diese Kompositionen durchziehen, tritt gelegentlich in den Vordergrund: die "Fiktion" eines Vergleiches des kompositorischen Aktes (und, als Erweiterung, die psychologische Struktur der Musik, wie sie auf einen Hörer projiziert wird) mit dem Prozeß einer "spekulativen Rekonstruktion". Die Musik entwickelt sich als ein Versuch eine hypothetische Ganzheit oder Kohärenz anzubieten - auf der Basis von verschiedenen Anhaltspunkten, die Theorie und Fragment miteinander verbinden. Deren chaotische und verwitterte Erscheinung könnten durch die (Fehl-)Funktion des Gedächtnisses bedingt sein, aber auch durch die Kräfte der Natur (wie wenn man die Erscheinung eines antiken Kunstwerkes aus Ruinen, die eines Urwesens aus Fossilien rekonstruieren wollte).

In ruin wird dieser Strang nun zu einem Kulminationspunkt gebracht (aber keineswegs zu einem Abschluß): dieses Werk besteht im Wesentlichen aus einer Menge von anscheinend unabhängigen kompositorischen Strukturen für eine Vielzahl von instrumentalen und räumlichen Konfigurationen. Diese werden aufgebrochen, durchdringen sich gegenseitig und verwirren sich, ganz wie archäologische oder geologische (oder auch psychologische) Schichten. Dabei werden sie aber durch ein stetes (wiederum "utopisches") Bemühen eines sich aus der Überlagerung dreier Schlagzeuger bildenden Stützgerüstes in einer Gesamtform zusammengehalten

Das zentrale Anliegen bei der Konzeption von ruin ist die formalisierte Verteilung seiner sechs Instrumentaltrios im Aufführungsraum, daß die klanglichen Prozesse, die bereits hinsichtlich der physikalischen Eigenschaften der Instrumente und ihrer Kombinationen eine enges Verhältnis aufweisen, auch eine Beziehung zum Konzertsaal eingehen. Die Architektur des SCHÖMER-HAUSES fördert die mehrdimensionale Entfaltung von Instrumenten und Klängen, und zwar sowohl vertikal als auch horizontal. Tatsächlich wurde ruin von Anfang an in Bezug auf diese besondere Architektur erdacht, auf seine "instrumentale" Komponente.

ruin wurde im Sommer 1995 als Auftragswerk des SCHÖMER-HAUSES vollendet, für das ich Karlheinz Essl zu Dank verpflichtet bin. Das Werk ist Iannis Xenakis gewidmet.

Übersetzung aus dem Englischen: KHE



Ausführende


Klangforum Wien

Das Klangforum Wien, 1985 von Beat Furrer gegründet, ist inzwischen das wichtigste Solisten-Ensemble für zeitgenössische Musik in Österreich. Weit über 80 Projekte verzeichnete der Saisonplan 1995/96, exemplarische Konzerte und Produktionen sind für die MusikerInnen des Klangforum zum unverzichtbaren Standard geworden.

Spartenüberschreitende Projekte mit Tanz, Bildender Kunst und Literatur sowie regelmäßige didaktische und animatorische Arbeit gehören ebenso zum Selbstverständnis des Ensembles wie die kontinuierliche Konzerttätigkeit in den wichtigsten Musikzentren. Im Zuge der rasant wachsenden Reputation gastiert das Klangforum Wien in der Saison 1996/97 auf den großen Podien der Musik (Salzburger Festspiele, Bregenzer Festspiele, Wittener Tage für Neue Musik, Schleswig Holstein Festival) und bestreitet einen programmatisch ambitionierten Zyklus im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses. Weitere Stationen sind u.a. Bonn, Berlin, New York, Frankreich, Italien und Japan.

In diesem Kontext ist die regelmäßige Zusammenarbeit mit den Dirigenten Neuer Musik ein unverzichtbarer Bestandteil des neuen Selbstverständnisses. Als österreichisches Ensemble, dessen Kern aus 21 Musikern besteht, möchte das Klangforum Wien eine intensive Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten ästhetischen Façetten des zeitgenössischen Komponierens realisieren - unter dem Blickwinkel rein qualitativer Orientierung, um damit den Werken der Moderne ein Forum authentischer Aufführungspraxis zu bieten sowie einer interessierten Öffentlichkeit verbindliche Möglichkeiten der Rezeption zu vermitteln.

Vom Programm und Idee her sucht das Ensemble ständig nach ästhetischem Neuland, indem es die Moderne als ein unabgeschlossenes Projekt begreift. Gleichzeitig ist die regelmäßige Auseinandersetzung mit den zentralen Werken der klassischen Moderne, insbesondere der Zweiten Wiener Schule, ein unverzichtbarer Strang der künstlerischen Praxis. Zentral für das Selbstverständnis der Musiker ist die kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen Komponisten und Interpreten.

Durch die künstlerische Mitsprache der Instrumentalisten wird ein demokratisches Forum geschaffen, das sich von traditionell hierarchischen Strukturen in der Musikpraxis abhebt. Damit hat sich neben der musikalischen Kommunikation eine energievolle und lustvolle Basis für das Miteinander-Arbeiten entwickelt.


Pascal Rophé

Nach seinem Studiums am "Conservatoire National Supérieur de Musique" in Paris errang Pascal Rophé den zweiten Platz beim Internationalen Dirigentenwettbewerb in Besançon. Seine musikalische Fähigkeiten stellt er vor allem in den Dienst der Musik des 20. Jahrhunderts und arbeitet mit erstklassigen Ensembles wie dem Pariser Ensemble InterContemporain (dessen zweiter Dirigent er zwischen 1993 bis 1994 war), dem italienischen Ensemble Varèse und dem Ensemble L'Itinéraire, dessen Haupdirigent er seit 1994 ist, zusammen.

Darüber hinaus leitete er auch das französischen Orchestre National, das Symphonieorchester von Radio France und die Orchester von Lyon, Toulouse, Montpellier und Lille. Er dirigierte das finnische Ensemble Avanti ebenso wie das BBC Symphonie Orchestra und das Radiosymphonieorchester Frankfurt.

Zuletzt dirigierte er bei den Salzburger Festspielen und hob kürzlich eine Oper des französischen Komponisten Michaël Levinas beim Straßburger Musica Festival aus der Taufe.
1 / 1
Impressum