Adventkonzert 1995

Kammermusik von Debussy, Ravel und Jolivet

Adventkonzert 1995

Kammermusik von Debussy, Ravel und Jolivet
Sa, 16.12.1995, 20:00 Uhr

Das Schömer-Haus

Er liebe Bilder fast genauso wie Musik, bekannte 1911 Claude Debussy. Und Partituren pflege er wie Gemälde zu betrachten, fügte Monsieur Croche hinzu, Debussys Pseudonym, unter dem er als Musikkritiker unverhohlen seine Meinung kundtun konnte.
Claude Debussy (1862-1918): Sonate für Harfe, Flöte & Viola

Er liebe Bilder fast genauso wie Musik, bekannte 1911 Claude Debussy. Und Partituren pflege er wie Gemälde zu betrachten, fügte Monsieur Croche hinzu, Debussys Pseudonym, unter dem er als Musikkritiker unverhohlen seine Meinung kundtun konnte. Den Musikbetrieb empfand Debussy als hoffnungslos rückständig; ihn zog es eher zu Literaten und Malern, von denen er mehr lernte als während seines ganzes Studiums am Pariser Conservatoire.

Claude Debussy, geboren am 22. August 1862 in Saint-Germain-en-Laye, konnte mit den strengen Kompositionsregeln, wie sie am Konservatorium gelehrt wurden, wenig anfangen. Für seine revolutionären Kompositionen, seine neuartige, die Gesetze der Tonalität durchkreuzende Tonsprache holte er sich andere Anregungen: Ein Gamelanorchester, russische Musik, die Gedichte Verlaines. Und natürlich: Bilder, Skulpturen. Wie kaum ein anderer Komponist wird Debussy gern und häufig mit Malern verglichen, seine Kompositionen - deren bildhafte Titel zu derlei Vergleichen bereits einladen - beschwören Naturgewalten in ihrem Spiel mit Farben und schillernden Figuren, kreisen um bestimmte Klangfolgen und verleugnen die traditionellen dynamischen Formen.

Debussy schrieb verhältnismäßig wenig Kammermusik. Da entstand 1893 ein vereinzeltes Streichquartett, und erst 19 Jahre später, 1912, wandte er sich mit dem Flötensolostück "Syrinx" erneut der Kammermusik zu. Dann allerdings, in seiner aus heutiger Sicht sogenannten "Spätphase", plante er gleich eine ganze Serie von sechs Sonaten für verschiedene Instrumente, die er seiner Frau widmen wollte. Nach der Sonate für Violoncello und Klavier entstand im Herbst 1915 die Sonate für Flöte, Viola und Harfe. Die geplante Serie konnte Debussy nur zur Hälfte verwirklichen; er war schwer an Krebs erkrankt und starb im März 1918, kurz nach Vollendung der dritten Sonate, einer Violinsonate.

"Das ist wirklich melancholisch, ich weiß nicht, ob man dabei lachen oder weinen soll. Vielleicht beides zugleich?" beschrieb Debussy seine Triosonate. Mit einer klassischen Sonate a la Mozart oder Beethoven hat sie wenig gemein, Themendualismus oder dramatische Durchführungen sind ihr fremd. Vielmehr verweist sie formal in ihrem Suitencharakter auf Couperin oder Rameau. Beim ersten Hören wird eine Form kaum erkenntlich; das Werk erscheint amorph, als abstraktes Spiel mit bizarren Motiven und schwebenden Ornamenten. Erst genaueres Hinhören enthüllt Themen, Formabschnitte, zyklische Verknüpfungen. Die thematischen Gestalten sind unscharf, sie erwachsen aus Arabesken und verlieren sich wieder in diesen. Beispielhaft ist der Beginn des ersten Satzes: Die Harfe eröffnet mit einem unverbindlichen Arpeggio. Die Flöte übernimmt die beiden letzten Töne dieses Ornaments, führt es weiter und stellt damit eines der wichtigsten Motive des Werkes vor. Sofort löst sie es aber wieder in Arabesken auf. Den Schlußton dieser Girlanden, e, übernimmt nun die Viola und beginnt mit ihm das erste Thema des Satzes. Die thematischen Gedanken sind gewissermaßen in spielerischen Verzierungen versteckt und verlieren so an Gewicht. Der Mittelteil des ersten Satzes hebt sich sanft von seiner Umgebung ab: Nach dem Ausklingen der Harfe entfernt die Viola ihren Dämpfer und setzt mit einem heftigen Thema ein, in einem 18/16-Takt - ein Charakteristikum Debussys, analog zu seinen zerfaserten, unregelmäßigen Rhythmen außergewöhnliche Taktarten zu wählen. Instabil ist auch die Harmonik, Debussy schreibt zwar für jeden Satz eine Tonart vor (F-Dur, bzw. f-moll im zweiten Satz), läßt aber kaum noch ein tonales Zentrum erkennen. Bezeichnend der Schluß des zweiten Satzes: Die Viola schwankt in Sekundschritten zwischen F-Dur und f-moll, kann sich nicht entscheiden. Schließlich verharren die Instrumente auf dem indifferenten Einklang c. In diesem Satz treten übrigens jene Effekte auf, denen Debussy sein Etikett "Impressionist" verdankt: Den B-Teil leiten leise Harfenrepetition ein ("mormorando" - murmelnd - schreibt die Partitur vor), die sich zu meerhaft rauschenden Arpeggien steigern. Der dritte Satz, ein schwungvolles Spiel mit schnell wechselnden Figuren, enthüllt gegen Ende die zyklische Anlage des Werkes: Aus dem Zitat der ersten Takte des ersten Satzes geht bruchlos das Anfangsmotiv des dritten Satzes hervor, eine Demonstration der untergründigen Verwandtschaft aller Themen dieser Sonate.


Maurice Ravel (1875-1937): Sonate für Violine & Violoncello

Debussy kann der Vater der französischen Musik unseres Jahrhunderts genannt werden. Die meisten (nicht nur französischen) Komponisten zeigen sich in irgendeiner Form von seinem Schaffen beeinflußt. Der am 7. März 1875 in der südfranzösischen Kleinstadt Ciboure geborene Maurice Ravel bewunderte den um 13 Jahre älteren Debussy so sehr, daß er ihm seine Sonate für Violine und Violoncello, komponiert von 1920 bis 1922, widmete. Musikalisch huldigt die Sonate jedoch eher Kodály und Bartók - Kodály insofern, als daß dieser 1914 ebenfalls ein Duo in der seltenen Konstellation Violine/Violoncello geschrieben hatte.

Ravels Domäne war das Orchester; wie auch Debussy war Ravel ein Meister der Instrumentation. An kammermusikalischen Werken gingen dem Duo nur ein Streichquartett (1902/03) und ein Klaviertrio (1914) voraus, später schrieb Ravel noch eine Violinsonate (1923-27). Er selbst bezeichnete das Duo als einen "Wendepunkt" in seinem Schaffen und meinte damit die radikalere Bauweise der Sonate, die mit einer starken Reduktion der musikalischen Mittel verbunden war. Damit unterscheidet er sich von der kunstvollen Differenziertheit Debussys; statt vertrackte Rhythmen findet man bei Ravel gleichförmige Bewegung. Der erste Satz der Sonate etwa besteht (mit einer Ausnahme: der Punktierung im ersten Thema) ausschließlich aus simplen Vierteln und Achteln. Auch das melodische Material ist reduziert, Dreiklänge sowie Motive im Quintabstand überwiegen - dadurch konnte Ravel relativ leicht alle vier Sätze motivisch miteinander verbinden. Mit der Tonart selbst nahm es Ravel nicht so genau; die einleitende Begleitfigur des ersten Satzes bietet beides: Moll aufwärts, Dur abwärts.

Sonate meint auch hier, wie bei Debussy, "Spiel", jedoch ein unbefangenes, naives Spiel, aus dem immer wieder die Freude an der Bewegung durchbricht. So durchziehen Arpeggien die Musik, jene Bewegungsform, die quasi reflexartig jeder wählt, der zum erstenmal eine Geige in die Hand gedrückt bekommt.

Klanglich hat die Sonate sehr viel zu bieten. Besonders effektvoll ist der zweite Satz mit seinen schnellen Pizzikati, den Flageoletts, den verfremdeten Klängen durch Striche am Steg bzw. am Griffbrett - eine Hommage an Bela Bartók, für dessen Werk sich Ravel stark eingesetzt hatte. Als Kontrast erklingt im dritten Satz eine schlichte innige Melodie im Violoncello, die von der Violine kanonisch aufgegriffen wird. In der intensiven Steigerung im Mittelteil wird die Musik zum ersten und einzigen Mal expressiv, verliert ihre Distanz und wird persönlich. Im Reiterrhythmus eilt dann der letzte Satz dahin, ein Feuerwerk an musikalischen Ideen, fast eine Collage. Denn selbst in das Fugato am Schluß des Satzes springen immer wieder Arpeggien oder das Reitermotiv - wie bei einem Kind, das sich nur mühsam auf eine Sache konzentrieren kann, weil ihm noch unzählige andere Dinge im Kopf herumschwirren.


André Jolivet (1905-1974): Chant de Linos für Harfe, Flöte & Streichtrio

In der französischen Musikgeschichte sind Gruppenbildungen von Komponisten mit einem gemeinsamen ästhetischen Konzept (meist in Abwehr einer gerade herrschenden Musikrichtung) keine Seltenheit, am bekanntesten wurde die "Groupe de Six". Ein weniger avantgardistisches, dafür die humanistischen Werte der Musik herausstreichendes Programm entwickelte die Gruppe "La Jeune France", der u. a. Olivier Messiaen und André Jolivet angehörten. Ihr Manifest von 1936: "Die Lebensbedingungen werden immer härter, mechanischer und unpersönlicher, die Musik muß unaufhörlich jene ansprechen, die spirituelle Heftigkeit und großzügige Reaktionen lieben."

Zu diesem Zeitpunkt stand der am 8. August 1905 in Paris geborene André Jolivet erst am Anfang seiner musikalischen Karriere; er mußte sich bis in die frühen 40er Jahre an verschiedenen Pariser Schulen als Lehrer sein Brot verdienen. Nebenbei studierte er jedoch intensiv Komposition, vor allem sein Unterricht bei Edgard Varèse prägte ihn nachhaltig. Kompositionstechnische Systeme lehnte er stets ab, vielmehr war es sein Ziel, "der Musik ihr altes und ursprüngliches Wesen als magischen und beschwörenden Ausdruck der Religiosität menschlicher Gemeinschaften zurückzugeben." Eine besondere Rolle spielte in seinem Schaffen die Flöte, die für ihn mit spirituellen, magischen Kräften verbunden war.

1944 schrieb Jolivet als Wettbewerbsstück für das Pariser Conservatoire die Komposition Chant de Linos für Flöte und Klavier und widmete sie dem am Konservatorium lehrenden Gaston Crunelle. Ein Jahr später bearbeitete er das Werk für Flöte, Harfe und Streichtrio. Der antike Linos ist ein Verwandter Orpheus, auch er war ein begnadeter Musiker, der gewaltsam sterben mußte. Die griechische Mythologie hält mehrere Versionen zu Leben und Tod des Linos bereit. Jolivet verstand den Chant de Linos als "Trauerklage, unterbrochen von Schreien und Tänzen". Die Hauptrolle spielt auch in der Bearbeitung die Flöte, deren Lamentationen und - bisweilen hochvirtuose - Figurationen von einem rhythmisch pulsierenden Begleitnetz getragen werden. Zwei Hauptteile, durch eine Flötenkadenz miteinander verbunden, lassen sich unterscheiden: Die eigentliche, getragene Trauerklage als Eröffnung, anschließend ein stürmischer Tanz.

© 1995 by Andrea Zschunke
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