Geschichte und Kunstgeschichtestudium am Robinson College der Universität Cambridge
Zum Werk
Der britische Künstler Marc Quinn schafft seine Plastiken anfänglich aus Brot, sogenannte „Bread Sculptures“, die dann in
Bronze gegossen werden. Von geschichtlich besetzten Werken wie „Marie Antoinette e Louis XVI“ (1989) geht er schließlich zum
eigenen Körper über, der mehr als zehn Jahre zum Protagonist seines Schaffens wird. In den 1990er Jahren wird Quinn durch eine besonders provozierende Art des Selbstportraits bekannt: 1991 gewinnt er innerhalb
von fünf Monaten viereinhalb Liter seines eigenen Blutes, welches er in den Abdruck seines eigenen Kopfes gießt und gefrieren
lässt: das ikonische und bereits berühmte Werk “Self“ entsteht. „Der Künstler inkarniert sich ganz buchstäblich in seinem
Werk. Die Arbeit ist Fleisch von seinem Fleisch“1. Die verwendeten Materialien, die nur in gefrorenem Zustand Haltbarkeit haben, weisen auf das Werden und Vergehen des Menschen
hin. Ein ähnlicher Kopf, der aus gefrorener Kokosmilch besteht und in einer Hi-Tech-Kühlvitrine aufbewahrt wird, befindet
sich in der Sammlung Essl. Der hohe technische Aufwand für die Erhaltung des Artefakts ist vom Künstler miteinkalkuliert,
denn ein längerer Stromausfall würde es für immer zerstören.
Quinn liebt das Wechselspiel zwischen Abformen und Verformen des menschlichen Körpers. Er beschäftigt sich offen mit dessen
Unzulänglichkeiten und konfrontiert den Betrachter, indem er ihm die eigene Körperlichkeit ohne Kompromisse vor Augen führt.
Der Abdruck eines Menschen wird zum Bildwerk, das seinem natürlichen Kontext entzogen, auch die Vergänglichkeit des Fleisches
demonstriert. Abdrücke von Körperteilen sind auch in Auguste Rodins Werk zu finden, die Vorbildcharakter für Quinn haben.
In den Jahren 1997-98 beginnt er die Serie „Stripped Monochromes“: vom eigenen Körper mit Polyurethan-Abformmasse gefertigte
Abdrücke. Dieses Material eignet sich besonders gut, in noch feuchtem Zustand zu rinnen und damit an charakteristischen Stellen
wie Händen, Beinen und Penis nur mehr den Eindruck einer körperlichen Spur zu hinterlassen. An den Beinen seitlich ist die
Latexskulptur offen und der Abdruck des Körpers im Inneren ist erkennbar. Nun wirkt sie wie eine zweite Haut, wie ein Ableger
des Körpers.
In Anlehnung an das klassische Schönheitsideal der Antike entstehen ab etwa 1999/2000 Skulpturen aus weißem Marmor, die Missbildungen
oder Amputationen am menschlichen Körper thematisieren. Zwei dieser Werke zeigen die britische Künstlerin Alison Lapper, eine
an den Gliedmaßen von Geburt an beeinträchtigte Frau. Quinn bildet ihren Körper einmal im achten Monat schwanger ab und dann
nach der Geburt mit ihrem Sohn Parys. Die in neoklassizistischer Manier behandelte Oberfläche der Skulpturen schafft Reminiszenzen
an das Werk Antonio Canovas. „Quinn stellt […] [mit diesen Werken] ein Menschenbild in Frage, welches das scheinbar makellose,
perfekte ins Zentrum des Abbildhaften stellt. Allerdings übten seit der Renaissance gerade Torsi, also Statuen, denen aufgrund
von Alter und Zerstörung Arme oder Beine fehlten, einen besonderen poetischen Zauber von Vergangenem aus.“2 2005 installiert Quinn eine große Version der Skulptur „Alison Lapper“ am Trafalgar Square und erreicht damit eine breitere
Öffentlichkeit. Auch berühmte Persönlichkeiten wie Kate Moss in Yogahaltung als „Sphinx“ (2005) und Michael Jackson werden
zur Kunstskulptur in Marmor-Optik transformiert.
2003/2004 kreiert Marc Quinn die Skulpturenserie „Flesh“, eine aus tierischem Fleisch geformte und in Bronze gegossene Reihe
von Skulpturen, die zu abstrakten, oft menschlich wirkenden Gestalten mutieren. Die barocke Oberflächenstruktur und Form des
Werkes “Cybernetically engineered, cloned grown rabbit“ (2004) erinnert in ihrer amorphen Gestaltung an Rodins „Balzac“. Durch
die Erschaffung einer neuen Figur aufgrund des Ausgangsmaterials Fleisch werden die Grenzen zwischen Leben und Tod ausgelotet.
„Vom Betrachter wird, wie in den meisten Arbeiten Marc Quinns, verlangt, Materialität und Körperlichkeit neu zu überdenken.“3
Das Werk Quinns enthält in vielen Aspekten autobiographische Züge, die sich nicht nur auf das Abformen, sondern auch auf eine
sinnvolle Gegenüberstellung von Geist und Körper beziehen. Die Idee, die sich durch das gesamte Werk zieht, ist die Sichtbarmachung
des menschlichen Bewusstseins mit den Mitteln der Bildhauerei. Der Mensch an sich ist sich bewusst zu existieren, zu leiden,
sich zu entwickeln und zu verändern.
Elisabeth Pokorny-Waitzer
1) Darian Leader, in: Keine Fluchtmöglichkeiten erkennbar? Überlegungen zum Werk von Marc Quinn, Kunstverein Hannover 1999. 2) Andreas Hoffer, in: Schönheit und Vergänglichkeit, AK Essl Museum, Klosterneuburg, 2011, S. 22/23. 3) Karin Altmann, in: Figur/Skulptur. Werke aus der Sammlung Essl, AK Essl Museum, Klosterneuburg, 2005, S. 112.