Programm
Carlo Inderhees: Acht Minuten
für Viola da Gamba, 2007
Diego Ortiz: Recercada Segunda
aus: Tratado de glosas sobre clausulas y otros generos de puntos en la musica de violones, Rom 1553
Tobias Hume: Loves Farewell
aus: Captaine Humes Musicall Humours, 1605
Diego Ortiz: Recercada Primera
Tobias Hume: Captaine Humes Pavan
Carlo Inderhees: Interludium
Mr de Sainte Colombe: Sarabande – Double de la Sarabande
aus: Recueil de Pièces pour Basse de Viole, 1690
Diego Ortiz: Recercada Quarta
Anonymus: What if A Daye
aus: Manchester Lyra-Viol Manuscript, 17. Jhdt
Gerd Kühr: The Violl Waye
für Viola da Gamba, 2009
Zum Programm
POETICALL MUSICKE – der Titel dieses Programms für Viola da Gamba solo, in dem Klänge der englischen und italienischen Renaissance
auf aktuelle Musik von Gerd Kühr und Carlo Inderhees treffen, ist inspiriert durch eine der großen Musikerpersönlichkeiten
der englischen Renaissance, Tobias Hume. Poeticall Musicke, poetische Musik also, kann aber auch sinnbildlich verstanden werden,
denn dass Musik im besten Falle damals wie heute eine bestimmte Poetik innewohnt, eine wie immer konturierte Geschichte in
Klängen erzählt, mag als eine wesentliche Voraussetzung für das Erleben von Musik angesehen werden.
Dass die Poesie der Musik dieses Programms fast in eins fällt mit der Poesie der Zeit und also sehr viel mit der Wahrnehmung
von Zeit zu tun hat, wird hier viel weniger als gemeinhin überraschen – und zwar in mehrfacher Hinsicht: Musik braucht ihre
Zeit, Musik selbst hat ihre eigene Zeit, und schließlich ist Musik Ausdruck ihrer Zeit. Sie kommt aus dem vermeintlichen Nichts
– etwa wie in den Stücken von Carlo Inderhees, dessen Komposition für Viola da Gamba den Beginn des Solokonzertes bildet –
und kehrt am Ende wieder dorthin zurück. Musik vergeht, Zeit vergeht, Zeit wird gestaucht oder sie wird geschichtlich perforiert,
wie in Gerd Kührs Arbeiten, aber was geschieht in den Zwischenräumen? Ist die Musik wirklich erst „da“, also bei uns, den
Hörern, wenn der erste Ton – der erste Ton der Gambe – erklingt? Oder klingt nicht bereits die so genannte „vox humana“, auch
wenn wir das angenommene „Nichts“ meinen zu hören?
Aus dieser Grundbefangenheit heraus gestaltet der deutsche Komponist Carlo Inderhees seine auf den ersten Eindruck äußerst
reduzierte, um nicht zu sagen „einfache“ Musik. Sie ist scheinbar bar jeder Komplexität. Stille – ein Ton – ein Klang – lange
Stille. Aber es geschieht dies: Der Blick des Betrachters, oder besser: das Ohr des Hörers, kann sich ganz konzentrieren auf
den Einzelklang, auf das einzelne Klangphänomen – einen schlichten Zweiklang vielleicht –, auf die recht singuläre Hörs-tuation.
Und ob die Musik von Carlo Inderhees will oder nicht – sie ist von ihrem Autor keinesfalls in diesem Sinne konzipiert –, bereitet
sie doch einen sehr speziellen Rahmen, einen zutiefst intimen Raum, in den sich die Musik vergangener Epochen einzulagern
vermag. In diesem Sinne bekommt „Zeit“ zunehmend noch ein anderes Verständnis: Die neue Musik, eine Musik unserer unmittelbaren
Gegenwart – denn die Musik von Carlo Inderhees und Gerd Kühr wurde 2007 und 2009 komponiert – reißt einen Raum auf, der „Vergangenheit“
scheinbar problemlos überwindet. Wenn es gelänge, Musik eben nicht zeitgebunden zu hören, dann werden die drei sehr unterschiedlichen
Gegenwartsmusiken gleichzeitig neben der linearen Melodiefolge der Ricercari von Diego Ortiz, neben dem akkordischen Denken
eines Tobias Hume und der virtuos geführten Harmonik von Sainte Colombe gehört – und letztlich wird alles zu einer Frage von
Dichte, Leere, Bewegung und Stillstand werden. Das Zeit überschreitende Phänomen des heutigen Programms gibt sich auf den
zweiten Blick also als ein solches von unterschiedlichen Graden „komplexer“ Musik zu erkennen. Aber ist Stille, Nicht-Erklingen,
Leere, Stillstand nicht auch komplex? (Eva Reiter)
Biographien
Carlo Inderhees wurde 1955 in Ostdeuschland geboren, studierte in Cottbus und Dresden, ehe er vor allem als Pianist experimenteller und improvisierter
Musik in Erscheinung trat. Nach einigen Jahren in Köln und Düsseldorf lebt und arbeitet er heute in Berlin. Im Laufe der Jahre
hat er zu einer musikalischen Sprache gefunden, die ausgedünnt, sehr sparsam und konzentriert ist. Jegliche Form der musikalischen
Bewegung, dynamischen Entwicklung und Agogik wurden gleichsam wegkomponiert, um die Aufmerksamkeit auf das schlichte Phänomen
des Klanges und den instrumentalen Einzelklang zu richten. Im ersten und letzten Stück des Programms erklingt eine schlichte
Abfolge von Tönen, Tonzusammenklängen und Stille. Die Stille als Moment des Nichtklanges ist der Musik von Inderhees gleichberechtigt.
Über weite Strecken werden Melodien und harmonische Entwicklungen hörbar und lassen sich musikalische Zusammenhänge, fast
schon Parallelen zur Alten Musik erahnen.
Gerd Kühr wurde 1952 geboren und zählt heute ohne Frage zu den bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten Österreichs. Er absolvierte
sein Kompositionsstudium am „Mozarteum“ Salzburg bei Josef Friedrich Doppelbauer und Hans Werner Henze in Köln, das Dirigierstudium
bei Gerhard Wimberger und Sergiu Celibidache. Opernengagements führten ihn nach Köln und Graz, zahlreiche Dirigate übernahm
er im In- und Ausland. 1992-94 hatte Gerd Kühr eine Gastprofessur für Komposition am „Mozarteum“ inne, seit 1995 ist er Professor
für Komposition und Musiktheorie an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz. Gerd Kührs Arbeit wurde durch mehrere
Preise und Auszeichnungen international gewürdigt, u. a. durch den Förderpreis der Ernst von Siemens Mu-sikstiftung, den Österreichischen
Förderungspreis für Musik, das Rolf-Liebermann-Stipendium für Opernkomponisten und den Ernst-Krenek-Preis der Stadt Wien.
Eva Reiter wurde in Wien geboren. Studium der Blockflöte und Viola da Gamba an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien.
Diplom mit Auszeichnung. Fortsetzung beider Studien am Sweelinck-Conservatorium in Amsterdam. Beide Masterdiplome „cum laude“.
Derzeit rege Konzerttätigkeit als Solistin sowie Auftritte mit verschiedenen Barockorchestern (u. a. De Nederlandse Bachvereeniging),
Ensemble Mikado, Le Badinage , Unidas und Ensembles für zeitgenössische Musik (Ictus, Klangforum Wien, Trio Elastic3, Duo
Breitband u.a.).
Als Komponistin mit dem «Publicity Preis» der SKE, dem Förderungspreis der Stadt Wien 2008, dem Queen Marie
José International Composition Prize 2008 sowie weiteren Förderungen ausgezeichnet. Ihre Komposition Alle Verbindungen gelten nur jetzt zählt zu den ausgewählten Werken des Rostrum of Composers (IRC) 2009. Eva Reiter brachte ihre Kompositionen bei internationalen
Festivals wie Transit/Leuven, Ars Musica/Brüssel, ISCM World New Music Festival 2006/Stuttgart, generator und Wien Modern/Wiener
Konzerthaus u.a. zur Aufführung. Sie tritt regelmäßig bei namhaften Festivals für Alte und Neue Musik auf.
Die Lebensdaten des spanischen Komponisten Diego Ortiz liegen weitgehend im Dunkeln, doch erscheint er im Jahre 1553 als „maestro di cappella“ am Hof des Herzogs von Alba. Er weilte
dort fünfzehn Jahre lang, wobei er über eine vorwiegend spanische Musikerschar gebot. Während dieser Zeit gab er eine Anzahl
geistlicher Kompositionen heraus, am wichtigsten ist jedoch seine Schrift „Tratado de glosas“ (1553), die als wichtigste Quelle
für die musikalische Aufführungspraxis des 16. Jahrhunderts gilt. Die instrumental komponierten Ricercari sind beeinflusst
von der musikalischen Form der Motette. Sie bestehen aus einer losen Aneinanderreihung von Durchführungen, in denen jeweils
ein anderes Thema vorherrscht. Im Laufe der Zeit reduziert sich die Anzahl der Themen, bis schließlich das Ricercar mit einem
Thema nahtlos zur Fuge führt. Das Ricercar ähnelt der Fantasie oder Toccata; im freien Präludieren wird die Tonart des nachfolgenden
Stücks aufgesucht.
„Ich bin weder Meister der Beredsamkeit noch der Musik, jedoch liebe ich die feinen Sinne und habe eine Vorliebe für Harmonien;
mein Beruf und meine Erziehung galten nämlich den Waffen, und die einzige weiche Seite meiner selbst war stets die Musik“, so beschreibt Tobias Hume die zwei Seelen in seiner Brust. Der exzentrische englische Komponist verdiente sich seinen Lebensunterhalt nämlich nicht
mit seiner Kunst – er war leidenschaftlicher Gambenspieler –, sondern als Soldat und Söldner. Mit seinen beiden Sammlungen
„Captain Humes Musicall Humors“ und „Captain Humes Poeticall Musicke“ schuf Hume einen ganzen musikalischen Kosmos vielfältigster
Stimmungen und Ideen. Titel wie „Death“, „Life“, „Captain Humes Lamentations“ und „Loves Farewell“ sind genauso zu finden
wie „Tobacco“ – ein Loblied auf den Tabak – oder „Lesson for two to play upon one Viole“, in dem ein Musiker auf dem Schoß
des anderen sitzt und beide auf nur einer Gambe spielen. Auch seine Erfahrungen als Soldat verarbeitet Hume: „Souldiers Resolution“
beschreibt eine Schlacht vom Aufmarsch bis zum Rückzug der Kämpfenden. In Anlehnung an die weit verbreitete Tradition der
Lautenlieder und Solostücke für Laute übertrug er diese Form auf das von ihm so sehr geschätzte Instrument. Hieraus ergab
sich eine vornehmlich akkordisch komponierte Musik. Vielfach wurden bekannte, einfache Melodien allgemeinen Liedguts als Grundlage
virtuoser Variationen verwendet, wie dies in „Loves Farewell“ und dem von einem anonymen Komponisten entstandenen „What If
A Daye“ der Fall ist.
Die tatsächliche Identität Sainte-Colombes konnte bisher nicht eindeutig geklärt werden. Es scheint jedoch, dass er zumindest eine Zeit lang in Paris gelebt und gelehrt
hat, sein Vorname Jean und der Theorbist Nicolas Hotman (einer) sein(er) Lehrer war. Ansonsten ist wenig über ihn bekannt,
da kaum zeitgenössische Quellen erhalten sind. Dennoch gilt er als einer der begnadetsten Gambisten seiner Zeit. Sein Schüler
Jean Rousseau bezeichnete sein Spiel als „perfekt“. Sein Schüler Marin Marais komponierte 1701 mit dem Gamben-Stück „Tombeau
pour Monsieur de Sainte-Colombe“ („Grabmal für Monsieur de Sainte-Colombe“) einen musikalischen Nachruf auf seinen Lehrer,
dessen Gambenmusik aus dem heutigen Repertoire nicht mehr wegzudenken ist. Sainte-Colombe wird die Hinzufügung der siebten
Saite (Kontra-A) zur Bassgambe, dem wichtigsten Soloinstrument aus der Familie der Gamben, zugeschrieben, um dem Instrument
auf diese Weise größeren Tonumfang und mehr Ausdrucksvermögen zu verleihen. Obwohl Sainte-Colombes „Sarabande“ das jüngste
Bindeglied zwischen Alter und Neuer Musik des Programms darstellt, erscheint sie doch zugleich eigenartig entfernt. In ihrem
Gestus ein Paradebeispiel für die verspielte, hypertrophe Manieriertheit französischer Provenienz, ist diese „Sarabande“ doch
auch ein höchst dichtes, konzentriertes, bewegtes, ja komplexes Stück Musik.