A QUATTRO

Vier Streicher im Klangrausch

A QUATTRO

Vier Streicher im Klangrausch
Sa, 31.05.2008, 19:30 Uhr

Das Schömer-Haus

Das Berliner Kairos Quartett besteht seit 1996 und ist berühmt für seinen exzellenten Ensembleklang und die gründliche Herangehensweise an die neuesten Werke für Streichquartett. Unserem Thema KLANG.RAUSCH ist dieses Programm gewidmet, das neben den zeitgenössischen Klassikern Berio und Scelsi ein Werk des britischen Komponisten Richard Barrett ins Zentrum rückt.
Seit seiner Etablierung im 18. Jahrhundert gilt das Streichquartett als anspruchsvolle Gattung, die höchste Meisterschaft verlangt und häufig gewählt wurde, wenn komposi¬torisches Neuland zu betreten war. Die vier Streichinstrumente bilden einen homogenen Klangkörper, in dem sich das Paradigma des vierstimmigen kontrapunktischen Satzes – wie er seit der Renaissance existiert – manifestiert. Gleichzeitig lassen sich die Einzelstimmen äußerst individuell herausarbeiten, was Goethe (in einem Brief an seinen Freund Zelter) zu jenem vielzitierten Ausspruch hinreißen ließ: „Man hört vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten, glaubt ihren Discursen etwas abzugewinnen.

Die im Streichquartett beschlossene Dialektik von Auseinandersetzung und Konsens, von Differenz und Einheit ist das Thema des heutigen Abends, wobei sich unser Augen- und Ohrenmerk auf jene Bereiche konzentrieren wird, wo der intellektuelle Diskurs sich aufzulösen beginnt und die Einzelmomente zu einem übergeordneten Ganzen zusam¬menfallen: dem rauschhaften Klang.

Die drei heute gespielten Quartette von Richard Barrett, Giacinto Scelsi und Luciano Berio sind gleichsam an den Rändern dieser geschichtsträchtigen Gattung angesiedelt und führen die Verschmelzung der Einzelstimmen zu einem unendlich differenzierten, komplexen Klang in unterschiedlichster Art und Weise vor Ohren.

Ich freue mich, das Berliner Kairos Quartett im SCHÖMER-HAUS begrüßen zu dürfen, das als eines der besten Ensembles seiner Art gilt und das Gelingen dieses spannenden Hör-Abenteuers garantiert.

Univ.-Prof. Dr. Karlheinz Essl
Musikintendant der Sammlung Essl



Programm


Richard Barrett (* 1959): 13 Selfportraits (2002)
für Streichquartett

Giacinto Scelsi (1905-1988): Streichquartett Nr. 3 (1963)
für Streichquartett

1. „with great tenderness (dolcissimo)“
2. „the spirit calls: dualism, ambivalence, conflict (drammatico)“
3. „the soul awakens…(con trasparenza)
4. „…and falls once more into pathos, but now with a sense of imminent release (con tristezza)
5. „liberation, catharsis

Luciano Berio (1925-2003): Notturno (1986/93)
für Streichquartett


Ausführende

Kairos Quartett (Berlin)

Wolfgang Bender: Violine (alternierend)
Chatschatur Kanajan: Violine (alternierend)
Simone Heilgendorff: Viola
Claudius v. Wrochem: Violoncello



WERKEINFÜHRUNGEN


Richard Barrett: 13 Selfportraits (2002)

Über sein Streichquartett schreibt der Komponist: 13 Selfportraits für Streichquartett entstand zu einer Zeit, als ich innerhalb meines musikalischen Schaffens verschiedene Möglichkeiten der Zusammenarbeit erkundete; die Arbeit an dem Werk nahm aber einen völlig anderen Verlauf. Während ich an der Komposition arbeitete, fragte ich mich immer wieder, ob es in der Musik eine Art „Innenschau“ geben könne. Wenn also diese Musik „in sich selbst hineinschaut“, so scheint sie eine gewisse Leere vorzufinden - und bildet daher ein Gegenstück zu dem viel dichteren „Blattwerk“ für Cello und Elektronik. Während „Blattwerk“ um die Idee des Wucherns kreist, scheint das Quartett oftmals Gefahr zu laufen, sich völlig aufzulösen.

Das Werk besteht aus 13 Strukturelementen von sehr unterschiedlicher Dauer. Diese Elemente sind nicht aneinandergereiht, sondern unter Anderem fragmentiert, übereinandergeschichtet und alternierend eingesetzt. Eines dieser Elemente ist über das gesamte Stück verteilt. Es taucht sowohl am Beginn als auch am Ende auf und erscheint im Verlauf und zwischen den einzelnen Elementen. Man kann daher weder von einer in unabhängige Abschnitte gegliederten Komposition sprechen noch von einem musikalischen Ganzen, sondern von einer Verquickung beider Ansätze. Mich fasziniert die Tatsache, dass diese Musik entweder als „verworren und inkohärent“ beschrieben werden kann oder als „Reihe kunstvoller Miniaturen“ – je nachdem, ob sie in Form von einzelnen „Sätzen“ aufgeführt wird oder nicht. (Stellen Sie sich zum Beispiel vor, dass die Fünf Stücke für Orchester op.10 von Anton Webern ohne Unterbrechungen oder sogar überlappend gespielt werden.) Mein Streichquartett versucht sich weder über das Eine noch über das Andere zu definieren; wenn die Musik aber konfus klingen mag, so ist das vielleicht das Kunstvolle daran. (Richard Barrett)



Giacinto Scelsi: Streichquartett Nr. 3 (1963)

Das 1963 entstandene Dritte Streichquartett ist das einzige Instrumentalwerk Scelsis, das eine Art Programm in den Titeln der fünf Sätze vorstellt:

1. „with great tenderness (dolcissimo)“: Der Beginn bewegt sich ständig um den Zentralton b, der für fast die Hälfte des Satzes nur durch mikrotonale Verschiebungen und kurze Glissandi nach h und c gesteigert wird. Über diese fast homogene Textur wird unerwartet in Takt 38 ein f Flageolett in der ersten Geige gesetzt. In den folgenden Takten beginnt eine expressive Steigerung, die die Dramatik des zweiten Satzes vorwegnimmt. Zunehmend verbreitern sich die Glissandi bis zum e, dann erklingen für einige Takte eindeutig tonale Dreiklänge (Ges-Dur und B-Dur). Gegen Ende wird das Klangfeld wieder reduziert und kurz vor Schluss bleiben neben b nur zwei andere Töne übrig (es und c).

2. „the spirit calls: dualism, ambivalence, conflict (drammatico)“: Der durch den Titel nahegelegte dramatische Charakter dieses Satzes wird von Scelsi mittels deutlicher und starker Kontraste realisiert. Der Zentralton ist hier e, der am Anfang in hoher Lage (Flageolett von Bratsche und erster Violine) erklingt und von den Nebentönen f und fis (zweite Violine) begleitet wird. Der erste Bruch deutet sich nach 20 Takten im Register an: Zuerst die zweite Violine, dann die Bratsche führen im Fortissimo Glissandi „col legno“ in zunehmend tieferer Lage aus. Die klangliche Textur verbreitert sich beträchtlich und alterniert zwischen Dur/Moll („ambivalence“). Es folgt ein sehr kontrastreicher Abschnitt, der von wilden Tremoli und Picchettati, ständig wechselnden Spielarten („col legno“, Pizzicati, am Steg, am Griffbrett usw.) und starken dynamischen Divergenzen geprägt ist. Zum Schluss beruhigt sich das Geschehen wieder, und wiederum herrscht der Zentralton e vor.

3. „the soul awakens…(con trasparenza)“: Nach dem dramatischen Höhepunkt des Stückes folgt ein sehr homogener Satz: Die Instrumente spielen überwiegend in hohem Register, die Dynamik bewegt sich hauptsächlich zwischen Mezzoforte und Fortissimo. Der Zentralton ist hier g, er ist aber als reiner Klang oder Unisono kaum zum hören; sondern erklingt meist zusammen mit a und wird durch Vibrato, Triller oder zweitönige Tremoli aufgeführt. Trotzdem betrifft der wenig kontrastierende Charakter dieses Satzes (der ununterbrochene Prozess des Erwachens der Seele) auch die Klangebene, da hier die Abweichungen vom Zentralton im Vergleich mit den anderen Sätzen geringer sind und auf den Ambitus von f und a begrenzt bleiben.

4. „…and falls once more into pathos, but now with a sense of imminent release (con tristezza)“: Um die programmatische Rückkehr zum Pathos zu gestalten, wählt Scelsi ein einfaches aber wirkungsvolles Verfahren: Der vierte Satz entspricht bis auf wenige Ausnahmen als perfekte Spiegelung dem ersten. So wird der expressive Charakter des erstes Satzes – ruhiger Anfang mit wenigen Abweichungen vom Zentralton in der ersten Hälfte, Steigerung der Ausdruckskraft in der zweite– krebsartig verwandelt von einem dramatischen Beginn (Pathos) hin zur Schlussentspannung (Auflösungsvorgefühl). Wie streng die Spiegelung durchgeführt wird, ist durch einen Vergleich der nächsten Abbildung mit der Vorherigen zu sehen.

5. „liberation, catharsis”: Der letzte Satz erreicht zwar den Zielton f, dieser wird aber schon am Anfang ständig von weiteren, nicht benachbarten Tönen belagert. In dem für dieses Stück relativ breiten harmonischen Feld erklingen teilweise tonale Dreiklänge (vor allem Des-Dur und F-Dur); erst am Ende wird die vollzogene Katharsis durch ein fünf Takte langes Unisono auf f symbolisiert. Hier überwiegen leise Dynamiken, die nur selten das Mezzoforte überschreiten. Genau in der Mitte des Satzes erklingt in der ersten Geige ein e als Flageolett in hoher Lage (ein Zitat aus dem zweiten Satz) als Reminiszenz an die Dramatik dieser inneren Reise. (Pietro Cavalotti)



Luciano Berio: Notturno (1986/1993)

Notturno, das dritte Streichquartett Berios ist 1986 und 1993 entstanden und ist - wie auch die vorangegangenen Quartette - einsätzig komponiert. Das Werk trägt als Inschrift die Worte „Ihr das erschwiegene Wort“, eine Zeile aus dem Gedicht Argumentum e silencio von Paul Celan. Sie sind eine Huldigung an die Nacht, die in diesem Gedicht als unfreiwillige Zeugin menschlicher Erfahrung „zwischen Gold und Vergessen“ auftritt. Jene Nacht, auf die auch der Titel Notturno anspielt, wird zum Symbol der dunklen Erinnerung, in der der Sprachfluß an seine Grenzen gerät und verstummen muss. Bei dem von den Erfahrungen des Holocaust geprägten Dichter Celan, der sich 1970 in Paris das Leben nahm, ist dieses Symbol untrennbar mit der konkreten Bedrohung durch Tord und Gewalt verbunden. Gleichzeitig birgt das nächtliche Schweigen Raum für menschliche Dimensionen jenseits der konkreten Sprache. Sie ist gerade angesichts entgrenzender Erfahrungen auch ein Signum der Hoffnung, in ihrer Sprachlosigkeit beredt zu werden.

Berio erschließt weite Räume, Tiefen und schillernde Farben für seine musikalische Deutung der Celanschen Dichtung. Die vier Stimmen verflechten sich zu Klangflächen, aus denen – bei aller Virtuosität – selten Einzelstimmen hervortreten. Auch wenn sich Entwicklungen ahnen lassen und auch mit den entsprechenden Erwartungen gespielt wird, bricht der Klangfluss immer wieder ab, verstummt und entsteht unmerklich von Neuem. In nuancenreichen Schattierungen der Dynamik, der Phrasierung und der Klangfarbe hält die scheinbar statische Musik den Hörer in ihrem Bann.

Notturno ist ein nächtliches Stück, weil es still ist. Es ist still, weil es aus unausgesprochenen Worten und unvollständigen Gesprächen besteht. Es ist still, auch wenn es laut ist, weil die Form still und nicht-argumentativ ist. Jedes Mal, wenn es in sich zurückkehrt, bringt es diese stillen Worte an die Oberfläche; immer, wenn es innehält, auf einer einzelnen Figur besteht, sie obsessiv ausdehnt.

Das Werk wurde im Auftrag der Wiener Konzerthausgesellschaft für das Alban Berg Quartett geschrieben und ist Lorin Maazel zum 60. Geburtstag gewidmet. (Sabine Meine)




KOMPONISTEN


Richard Barrett

Wurde 1969 in Swansea (Wales) geboren. Er studierte Genetik am University College (London) sowie Komposition bei Peter Wiegold. Er ist als Komponist, Improvisationsmusiker, Musikschriftsteller und Lehrer tätig.

Seine Kompositionen wurden unter anderem von Music/Projects London, L’tinéraire, Ensemble Modern, Nieuw Ensemble, Arditti String Quartet, Accroche Note, Ensemble InterContemporain, Champ d’Action, Elision Ensemble, Ensemble Exposé (welches er 1984 zusammen mit Roger Redgate und Michael Finnissy gründete), Klangforum Wien, Frances-Marie Uitti, Christophe Roy, Ian Pace, Andrew Sparling, Michael Finissy und Frederic Rzewski aufgeführt.

1986 gewann Richard Barrett den Kranichsteiner Musikpreis der Darmstädter Ferienkurse für Musik. Seine Zusammenarbeit mit dem Elision Ensemble seit 1990 ist von besonderer Bedeutung, da aus ihr Werke wie negatives (1988-1993) für Kammerensemble und Opening of the Mouth (1992-1996) für Gesang, Instrumente, Elektronik, Projektor und Installation hervorgingen. Sein Ensemblewerk ruin – ein Kompositionsauftrag der Sammlung Essl – wurde 1996 im Rahmen des Festivals Wien modern im SCHÖMER-HAUS uraufgeführt.

Neben seiner kompositorischen Arbeit, die der „New Complexity“ anverwandt ist, führt Barrett seit 1986 elektronische Live-Musik im elektronischen Duo FURT mit Paul Obermayer auf und arbeitet mit Improvisationsmusikern wie Musikern George Lewis, Evan Parker, Luc Houtkamp, Mary Oliver, Ute Wassermann und Wolfgang Mitterer zusammen.

Zwischen 1993-2002 lebte Barrett in Amsterdam, arbeitete dort als Gastkomponist am STEIM (Studio for Electro-Instrumental Music) und unterrichtete Elektronische Musik am Institute for Sonology am Königlichen Konservatorium in Den Haag. Auf Einladung des DAAD übersiedelte er 2001 nach Berlin. Seit 2006 lebt er in London und bekleidet dort eine Kompositionsprofessur an der Brunel University.


Giacinto Sclsi

Es fällt noch heute schwer über Giacinto Scelsi zu sprechen, ohne zumindest am Rande die seltsamen Umstände der Rezeption seines Werkes zu erwähnen. Bis zum Anfang der 80er Jahre wurde die Musik Scelsis (geb. 1905 in La Spezia, gest. 1988 in Rom) mit Ausnahme weniger Konzerte in Rom und Paris praktisch kaum aufgeführt. Im April 1982 bezog Heinz Klaus Metzger innerhalb zweier Rundfunksendungen vehement Stellung zugunsten einer neuen Bewertung des Schaffens dieses Komponisten, und mit den folgenden Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik fing eine Art „Scelsi-Renaissance“ an. Das Interesse von Musikwissenschaftlern und Komponisten für den damals fast Achtzigjährigen wuchs mehr und mehr: Man behauptete, die Geschichte der abendländischen Musik hätte nach der Entdeckung Scelsis neu geschrieben werden müssen (Harry Halbreich), sein Werk wurde als der originellste Beitrag zur Emanzipation des einzelnen Tons und der Vierteltöne betrachtet (Hans Rudolf Zeller), spektrale Komponisten wie Tristan Murail fanden in ihm einen wichtigen Vorläufer, und in Italien versuchte man das Unrecht wiedergutzumachen und veranstaltete verschiedene Kongresse und Konzertreihen. Inzwischen hat Scelsi seinen Platz innerhalb der Musikgeschichte gefunden und heute ist er vermutlich der italienische Komponist des 20. Jahrhunderts, dessen Musik am meisten aufgeführt wird.

Über seine Biografie hat man noch immer nur einige Notizen zur Verfügung, da Scelsi sein Leben lang versucht hat, so wenig Information wie möglich über sich selbst zu hinterlassen. Auch wenn ihm das einerseits gut gelungen ist (es gibt von ihm noch nicht einmal Fotografien), so kursieren anderseits gerade aufgrund der Exzentrizität dieser Figur zahlreiche Anekdoten, die hier, obwohl von großem Unterhaltungswert, nicht kolportiert werden können.

In seinem Schaffen ist eine starke Zäsur nach 1941 zu bemerken, die mit einer ernsthaften persönlichen Krise und vielen Jahren Behandlung in einer psychiatrischen Klinik zusammenfällt. Als er Anfang der 50er Jahre wieder zum Komponieren fand, beschränkte sich Scelsis Interesse nicht mehr nur auf die Relationen zwischen den Tönen, sondern gar auf die Komposition eines einzigen Klanges. In dieser Musik fehlt eine formale Entwicklung in klassischen Sinn, es handelt sich vielmehr um die Gestaltung des Klanges und seiner Parameter und um die Wahrnehmung seiner inneren Transformationsprozesse. Kompositionstechnisch operiert Scelsi mit kontinuierlicher Permutation und Variation innerhalb der Elemente des Klanges. In verschiedenen Lagen, mit verschiedenen Farben und Dynamiken, durch verschiedene Spielanweisungen wird ein Zentralton ständig gehalten und dabei leicht variiert. Viertelton-Verschiebungen sowie naheliegende weitere Töne werden langsam eingesetzt und bewegen sich um den Zentralton im Kreis in einer fortlaufenden Verbreiterung und Verengung des harmonischen Feldes. Das paradigmatische Werk dieser Periode, Krönung einer mehrjährigen kompositorischen Entwicklung, sind die 1959 entstandenen Quattro pezzi (su una nota sola) (Vier Stücke über einen einzigen Ton) für Kammerorchester.

In dieser Phase seines Schaffens komponierte Scelsi drei der fünf Streichquartette, die zu seinen bedeutendsten Werken zählen. Sie sind spieltechnisch sehr anspruchsvoll, insbesondere was die Intonation betrifft: Scelsis bevorzugt lang gehaltene Töne, manchmal in mikrotonalem Abstand zwischen den Instrumente, oder Unisoni, die aber in verschiedenen Lagen oder mit anderer Spielweise von jedem Spieler aufgeführt werden sollen. Darüber hinaus sollen die Klänge so rein wie möglich erklingen, die Töne sind, wenn nicht anders vorgeschrieben, absolut ohne Vibrato zu spielen. (Pietro Cavalotti)

Website: www.scelsi.it


Luciano Berio

Luciano Berio wurde 1925 in Oneglia am Ligurischen Meer geboren und starb 2003 in Rom. Er wuchs in einer Musikerfamilie auf und zeigte zunächst eine Vorliebe zum Klavier, doch wurden die Pläne einer Pianistenlaufbahn durch eine Kriegsverletzung an der Hand zunichte gemacht. Der Entschluss zum Komponieren zog ein Studium am Mailänder Konservatorium nach sich, das er 1950 abschloss. Dank seiner im besten Sinne „musikantischen“ Veranlagung mag es Berio vermocht haben, in seinen Kompositionen die komplexen Anforderungen einer zeitgenössischen Tonsprache nie auf Kosten des Klanges und Ausdrucks zu realisieren.

Berio wurde nach dem Studium u.a. durch Luigi Dallapiccola beeinflusst. Er entwickelte Interesse an neuer elektronischer Musik, mit dem Ziel, die Errungenschaften der Technologien zur Erneuerung vokaler und instrumentaler Klänge zu nutzen. Zusammen mit Bruno Maderna gründete er 1956 das „Studio di Fonologia Musicale“ - das erste italienische Studio für elektroakustische Musik in Mailand. Die 1960er Jahre brachten eine rege Unterrichtstätigkeit an prestigereichen Institutionen mit sich, u.a. in Tanglewood, New York (Julliard School of Music), Darmstadt und Köln. Von 1974 bis 1980 war er im von Pierre Boulez gegründeten IRCAM in Paris als Direktor der Abteilung für Elektroakustik tätig. Parallel dazu dirigierte er viel und war u.a. künstlerischer Leiter des Israel Chamber Orchestras und Dirigent der Academia Filarmonica Romana. Daneben fungierte er auch als Herausgeber der Musikzeitschrift Incontri Musicale.

Wie kaum ein zweiter Komponist seiner Generation lebte Berio im intensiven Dialog mit benachbarten Disziplinen, der Dichtung und der Sprachforschung. Die der Moderne eigene Herausforderung, in Anbetracht der Ambivalenz des Daseins die Zweifel über die Sprachfähigkeit von Kunst in den Werken zu thematisieren, hat er als Komponist angenommen. Über rein musikalische Mittel macht er sich solche aus der Linguistik und der Lyrik zu eigen, um sie in seine Tonsprache zu integrieren. Vor allem für die Entwicklung der Vokalmusik nach 1950 eröffneten Berios Kompositionen neue Dimensionen. Seine Heirat mit der amerikanischen Sängerin Cathy Berberian war im Hinblick auf die Erneuerung vokaler Techniken und Ausdrucksmöglichkeiten eine äußerst fruchtbare Symbiose. Berios „work-in-progress“-Denken, die latente Unabgeschlossenheit seiner Kompositionen, die er (ähnlich wie Boulez) oft nach Jahren wieder aufgreift, umarbeitet und weiterführt, ist nicht ohne seine Verbundenheit mit Umberto Eco und dessen Theorien über Das offene Kunstwerk (1963) vorstellbar. Auch vor etablierten Gattungsgrenzen machte Berios experimenteller Forschergeist nicht halt. Die Tendenz zur offenen Form griff auch auf das Musiktheater und die Instrumentalmusik über. Dass Berio nichtsdestotrotz sich den in der Tradition verankerten Gattungen stellte, belegten u.a. seine drei Streichquartette, dessen letztes im heutigen Konzert gespielt wird. (Sabine Meine)




INTERPRETEN


Kairos Quartett

Wolfgang Bender, Chatschatur Kanajan: Violinen (alternierend)
Simone Heilgendorff: Viola
Claudius v. Wrochem: Violoncello

Das in Berlin ansässige Kairos Quartett widmet sich seit seiner Gründung 1996 vornehmlich der Musik des ausgehenden 20. und des 21. Jahrhunderts. Richtungweisende Kompositionen nach 1950 und Uraufführungen stehen im Mittelpunkt; hierzu gehören die Traditionslinien europäischer Musik ebenso wie die anderer Kulturen (etwa Fernost) oder Kompositionen, die weitere Medien wie Elektronik, Video, Sprache oder Szene einsetzen. Die Sorgfalt in der Auswahl von Stücken und Zusammenstellung von Programmen reicht beim Kairos Quartett bis hin zur Kuratorentätigkeit, z.B. bei seiner Gesprächskonzertreihe „Fünf Fenster auf Musik für Streichquartett seit 1950“, die 2001/02 in der Kulturbrauerei Berlin mit einigen namhaften Komponisten (u.a. Ferneyhough, Lachenmann und Lucier) stattfand. Kommunikative Offenheit ist Programm: Es wird der enge Kontakt zu Komponisten entwickelt und gepflegt wie Georg Friedrich Haas (A), Julio Estrada (Mexiko), Giorgio Netti (I), Sergej Newski (D/RUS), Enno Poppe (D) und Liza Lim (Australien). Durch Workshops und Gesprächskonzerte pflegt das Quartett die Nähe zum Publikum und zu Musikstudierenden. Workshops und Seminare zur Neuen Musik und ihren Spieltechniken oder verwandten Themen präsentierte das Kairos Quartett bisher an Musikhochschulen und im Rahmen von Festivals in Deutschland, Mexiko, Österreich, Norwegen, Polen und der Schweiz. Seine zahlreichen Auftritte führten das Kairos Quartett mehrfach zu den Internationalen Ferienkursen in Darmstadt, sowie zu renommierten Festivals wie den Berliner Festwochen, Cervantino, Eclat, Festival d’Automne, Huddersfield, Salzburger Festspiele, Warschauer Herbst und Wien Modern. Neben dem deutschsprachigen Raum konzertierte das Kairos Quartett in Belgien, Frankreich, Finnland, Großbritannien, Italien, Mexiko, den Niederlanden, Norwegen, Polen, der Schweiz und in der Ukraine. Für Ende 2008 ist seine erste Russland-Tournee geplant.

Mit dem Kairos Quartett erhielt 2001 erstmals ein Ensemble das Stipendium der Akademie Schloß Solitude (Stuttgart). Konzertreisen ins Ausland wurden mehrfach von der Ernst v. Siemens Stiftung finanziert. Die CDs des Kairos Quartett wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik.Zu den zahlreichen musikalischen Partnern des Quartetts gehörten Dietrich Henschel, Mayumi Miyata, Valeri Scherstjanoi, das Schlagquartett Köln, die Vokalsolisten des SWR, Erich Wagner, Ya-Ou Xie und Frank Immo Zichner.

Website: www.kairosquartett.de

Kairos, der Gott des günstigen Augenblicks, verkörpert den subjektiven Zeitbegriff.
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