FRIEDRICH CERHA

Geburtstagskonzert

FRIEDRICH CERHA

Geburtstagskonzert
Sa, 25.02.2006, 19:30 Uhr

Das Schömer-Haus

Zu Friedrich Cerhas 80. Geburtstag spielt das von ihm 1959 mitgegründete Ensemble "die reihe" seine hintergründig-skurrilen "Chansons", kongenial gesungen von Heinz-Karl Gruber, einem langjährigen Freund und Weggefährten.
Als einer der wichtigsten lebenden österreichischen Komponisten hat Friedrich Cerha im Laufe seiner 70jährigen Komponistenkarriere Bahnbrechendes geleistet: die Aufarbeitung der musikalischen Moderne - vor allem der Wiener Schule - und deren Vermittlung als Lehrer, Ensemble-Leiter und Dirigent; die Entwicklung neuer Kompositionsansätze, die auf systemtheoretischen Überlegungen fußen; die Auseinandersetzung mit aussereuropäischen Musikkonzepten wie den arabischen Maquam und den polymetrischen Rhythmusmodellen der Papua aus Neu-Guinea; und nicht zuletzt auch die Aufarbeitung einer typisch Wienerischen Musiktradition abseits der Hochkultur, die vom Heurigenlied ausgehend zu den schrägen Chansons auf Texte der „Wiener Gruppe“ und Ernst Jandls führt.

Diese Musik steht im Zentrum des heutigen Abends und zeigt den Avantgardisten Friedrich Cerha von einer ganz anderen Seite: als kautzigen und hintergründigen Musiker voll Ironie und Witz.

Kongenial gesungen werden diese Chansons von Heinz Karl Gruber, der als Komponist und Dirigent Furore macht und als ausdrucksstarker und charismatischer Chansonnier die bizarren und teilweise hochkomplexen Texte („hörprobe“) überzeugend zu artikulieren weiß. Im Verein mit dem Ensemble „die reihe“, das vor fast 50 Jahren von Friedrich Cerha gemeinsam mit Kurt Schwertsik gegründet wurde, verspricht die Besetzung hochkarätigen Kunstgenuss.

Es freut mich ausserdordentlich, an diesem heutigen Abend den 80. Geburtstag von Friedrich Cerha mit Ihnen zusammen im SCHÖMER-HAUS zu feiern!

Dr. Karlheinz Essl
Musikintendant der „Sammlung Essl – Kunst der Gegenwart”


PROGRAMM

Friedrich Cerha (* 1926): Eine Art und eine letzte Art Chansons (1985-89)
für Klavier, Schlagzeug, Kontrabass und einen Chansonnier
Erstaufführung des Gesamtzyklus’

Eine Art Chansons (1985-87)

I. Teil

1. Statt Ouvertüre
2. hörprobe   Ernst Jandl
3. sonett   Gerhard Rühm
4. Klatsch   Horst Bienek
5. Zungentraining   Brigitte Peter
6. klassisch   Hermann Jandl
7. ein deutsches denkmal   anonym
8. Kleines Gedicht für große Stotterer   Kurt Schwitters
9. Epitaph   Klabund
10. Wenn der Puls   anonym
11. Mazurka (nach Satie)   
12. Vierzeiler   Werner Finck
13. sieben kinder   Ernst Jandl
14. Die Wühlmaus   Fred Endrikat
15. Puppenmarsch
16. etüde in f   Ernst Jandl
17. doixanda   Ernst Jandl

II. Teil

18. ich bekreuzige mich   Ernst Jandl
19. lichtung   Ernst Jandl
20. fragment   Ernst Jandl
21. österreichisches fragment   Friedrich Cerha
22. ich brech dich   Ernst Jandl
23. Waschmaschinen   Beat Brachbühl
24. thechdthen jahr   Ernst Jandl
25. falamaleikum   Ernst Jandl
26. loch   Ernst Jandl
27. wien: heldenplatz   Ernst Jandl
28. 13. märz   Ernst Jandl
29. keiner schließlich   Ernst Jandl
30. vater komm erzähl vom krieg   Ernst Jandl
31. was können sie dir tun   Ernst Jandl
32. koexistenz   Ernst Jandl
33. sieben weltwunder   Ernst Jandl
34. ich haben einen sessel   Ernst Jandl
35. Bis Schopenhauer   Arthur Schopenhauer
36. Zwergenparade
37. Kleeblattgasse   Ernst Jandl
38. Valse sentimentale et elegiaque
39. tür auf   Ernst Jandl
40. haiku   Ernst Jandl
41. ich was not yet in brasilien   Ernst Jandl

III. Teil

42. synopsis einer politischen rede   Gerhard Rühm
43. väterlicher rat   Friedrich Cerha
44. der wein   Gerhard Rühm
45. es is schod   Friedrich Cerha
46. Minipotpourri   
47. schdiagn schdeign   Gerhard Rühm
48. heid gnauffn di dian   Gerhard Rühm
49. in da donau di nixaln   Gerhard Rühm
50. aum baumhof   Gerhard Rühm
51. i was ned   Gerhard Rühm
52. i glaub se san ka kawalia   Gerhard Rühm
53. Polka 
54. i siz in da kuchl   Gerhard Rühm
55. elegie   Gerhard Rühm
56. da blade edi   Gerhard Rühm
57. mizzi   Gerhard Rühm
58. sogns freilein san se lungangraung   Gerhard Rühm
59. um middanochd   Friedrich Achleitner
60. wenn es stinkt   Gerhard Rühm / Friedrich Cerha
61. schwung   Ernst Jandl

Eine letzte Art Chansons (1989)

1. Erzieherischer Akt   Friedrich Achleitner
2. Die Utopie der Solidarität   Friedrich Achleitner
3. Diagnose   Friedrich Achleitner
4. Perfekte Bedienung oder:
Achleitner über Achleitner   Friedrich Achleitner
5. Meditation   Friedrich Achleitner
6. Gigözzn   Friedrich Achleitner
7. Überlegung   Friedrich Achleitner
8. Kollegiale Aufforderung oder herzhafte
Ermunterung Wiener Musiker zur
Beförderung der Antriebslust   Friedrich Cerha
9. Da aunkl Poidi   Friedrich Cerha
10. Da Friedn auf da Wöd   Friedrich Cerha
11. Aria buffa für Nali   Friedrich Achleitner


AUSFÜHRENDE

Ensemble „die reihe“

Adolf Hennig: Klavier
Josef Pitzek: Kontrabass
Gerhard Windbacher: Schlagzeug

HK Gruber: Chansonnier


WERKKOMMENTARE

In den frühen Fünfzigerjahren stand ich – wie früher schon ausgeführt – mit einigen meiner Kompo- nistenfreunden avantgardistisch gesinnten jungen Malern nahe, die sich im Art-Club gesammelt hatten; ihr Vereinslokal, der „Strohkoffer“, wurde aber auch von jungen Dichtern (H. C. Artmann, Gerhard Rühm, Konrad Bayer etc.) frequentiert, die später mit anderen (etwa Ernst Jandl) unter dem Begriff „Wiener Gruppe“ subsummiert wurden.

Ihre Sprachexperimente mit hochdeutschen Elementen, Dialekt, verballhornten Fremdsprachen oder auch Sprachfehlern waren mir also früh bekannt, ich hatte aber zu diesem Zeitpunkt keine konkreten Vorstellungen, um mich kompositorisch damit auseinander zu setzen. Stilistisch schloss diese Literatur natürlich an dadaistische Vorbilder an, auch u. a. an Schwitters (dessen Kleines Gedicht für große Stotterer ich übrigens in meinen Zyklus aufgenommen habe). Die meisten Gedichte aus den Fünfziger- jahren unterscheiden sich aber von Dadaistischem durch einen realen, erfahrbaren Hintergrund, auf dem sich die Verformungen vollziehen. Der Zyklus von 60 Miniaturen, in dem ich auf Grund meiner Erfahrungen nun dieses Material, das mich jahrzehntelang begleitet hatte, kompositorisch in die Hand nehmen und eine Methode entwickeln konnte, die Texte musikalisch überzeugend adäquat ihrer Sprache und ihrer Mentalität zu gestalten, ist vielschichtig. Er umfasst artistische Sprach- und Formspiele, Alltags-Satiren, Populär-Groteskes und Politisch-Zeitkritisches. Insgesamt hat es mich gereizt, an Stelle der gepflegten Aura des Lieds die Direktheit des Chansons anzupeilen, die sakrifizierten Bereiche der „Großkunst“ einmal hinter mir zu lassen, mich auf dem gefährlichen Terrain der „Kleinkunst“ zu bewegen und bei Wahrung des musikalischen Qualitätsanspruchs – teilweise spielerisch – Verhaltens- und Reaktionsweisen zu überspitzen, ins Absurde zu überdrehen oder auch das Schaurig-Banale an der Realität unmittelbar zu zitieren. Ich hoffe, ein Publikum zu finden, das mir auf dieser Gratwanderung mit Vergnügen – zuweilen auch mit Betroffenheit – folgt.

Von besonderer Bedeutung war mir der dramatische Aufbau des Zyklus. In seiner Mitte kristallisiert sich ein sehr ernsthaft zeitbezogener Abschnitt (Wien Heldenplatz, 13. März) heraus, später auch ein nostalgisch gefärbter (Kleeblattgasse). Gegen Ende häufen sich die Dialekttexte. Natürlich wird insgesamt immer wieder mit Zitaten, aber auch nur mit Modellanspielungen gearbeitet. Zugeschnitten ist das Ganze auf vier äußerst virtuose, intelligente Musikerfreunde, von denen der Komponist und „Chansonnier“ Heinz Karl Gruber weitere Anregungen gab.

Eine letzte Art Chansons (1989) sind für ihn geschrieben. Während der erste Zyklus Texte aus dem gesamten Umfeld der „Wiener Gruppe“ vereint, sind in der „letzten Art“ nur solche des auch zu ihr zählenden Friedrich Achleitner, ergänzt durch eigene, vertont. „Nali“ nennen seine Freunde Heinz Karl Gruber. Die Aria buffa für Nali beruht auf Achleitners Hochzeitsgeschenk für den Architekten Hannes und die Malerin Ada Gsteu, in dem er die leicht debile Sprechweise von Verliebten persifliert. Die textlichen Anspielungen auf bekannte Musik sind Einfügungen von mir. Sie finden natürlich ihr Pendant in der Komposition, wobei diese Zitate (aus Rossinis Der Barbier von Sevilla) und Johann Strauß’ Die Fledermaus), wie auch weitere im Zyklus (bzw. in Nr. 7 aus Richard Strauss’ Ein Heldenleben oder in Nr. 8 aus den Czerny-Etüden und der 3. Leonoren-Ouvertüre) nahtlos in den Kontext verwoben sind. Unter Eliminierung von einigen Nummern, die thematisch oder musikalisch zu ähnlich erschienen, wurden die beiden Zyklen nun zu einem Ablauf zusammen gefasst, dessen Erstaufführung im heutigen Konzert stattfindet. (Friedrich Cerha)


BIOGRAPHIEN

Lebenslauf Friedrich Cerha

1926 wurde Friedrich Cerha am 17. Februar in Wien geboren. Mit 6 Jahren begann er Geige zu spielen; seine ersten Kompositionen schrieb er

1935 - 37 und erhielt über eigene Initiative Unterricht in Kontrapunkt und Harmonielehre. Noch vor Beendigung des Gymnasiums wurde er

1943 zur Wehrmacht einberufen, kam aber in Dänemark in Kontakt zur dortigen und später zur deutschen Widerstandsbewegung, die ihn beim Verlassen des Militärs schützte.

1945 lebte er als Bergführer in Tirol. Ende des Jahres kehrte er - zunächst ungern - in akademische Ordnungen zurück.
studierte er in Wien an der Akademie für Musik Komposition (Alfred Uhl), Geige (Vasa Prihoda) und Musikerziehung, an der Universität Germanistik, Musikwissenschaft und Philosophie.

1950 Promotion zum Dr. phil.

1950 - 53 Abschluss der Musikstudien. In dieser Zeit intensivierte sich Cerhas Kontakt zum von avantgardistischen Malern und Literaten dominierten "Art-Club" und - was für seine künstlerische Entwicklung von besonderer Bedeutung war - zur IGNM, in der ihm Josef Polnauer wesentliche Analyse- und Interpretationshinweise zu Werken der Wiener Schule gab.

Ab 1956 nahm Cerha an den Darmstädter Ferienkursen teil. Als Geiger besuchte er dort auch Kurse von Rudolf Kolisch und Eduard Steuermann, zwei weiteren intimen Kennern des Musizierideals der Schönberg-Schule. Cerha war in diesen Jahren als Konzertgeiger und Musiklehrer tätig.

1957 Rom-Stipendium

1958 gründete er zusammen mit Kurt Schwertsik das Ensemble „die reihe“ zur Schaffung eines permanenten Forums für neue Musik in Wien. Es leistete in der Folge Pionierarbeit bei der Präsentation neuer Werke, aber auch der Musik der Klassischen Moderne, vor allem der Wiener Schule und erwarb bald internationale Anerkennung.

Ab 1959 war Cerha Lehrer an der Hochschule für Musik in Wien. 1976 - 88 war er dort Professor für „Komposition, Notation und Interpretation neuer Musik“.

Ab 1960 profilierte sich Cerha zunehmend als Dirigent (Ensemble, Orchester, Oper). Er arbeitete regelmäßig für die bedeutendsten Institutionen zur Pflege neuer Musik, große internationale Festivals und Opernhäuser, u. a. Warschauer Herbst, Prager Frühling, Biennale Zagreb, Biennale Venedig, Holland-Festival, Salzburger Festspiele, Wiener Festwochen, Berliner Festspiele, Deutsche Oper Berlin, Teatro Colon Buenos Aires, Concertgebouw Orchester Amsterdam, Berliner Philharmoniker, Cleveland Orchestra, Lincoln Center New York.

Ab 1962 Beschäftigung mit der Herstellung des III. Aktes der Oper „Lulu“ von Alban Berg. Uraufführung der integralen Fassung 1979 in Paris.

1970/71 Stipendiat des DAAD Berlin

1978 Begründung eines weiteren Konzertzyklus „Wege in unsere Zeit“ in Wien, den Cerha bis Herbst 1983 leitete. Dann übergab er die Leitung des Ensembles "die reihe" an HK Gruber und Kurt Schwertsik.

1981 Uraufführung des Musiktheaterstücks Netzwerk bei den Wiener Festwochen und Uraufführung der Oper Baal bei den Salzburger Festspielen und Folgeaufführungen an der Wiener Staatsoper.

1987 Uraufführung der Oper Der Rattenfänger beim Steirischen Herbst in Graz und Folgeaufführungen an der Wiener Staatsoper.

1989 Hauptkomponist beim Festival „Wien Modern“

1996 Uraufführung des Auftragswerks Impulse für Orchester durch die Wiener Philharmoniker. Zahlreiche Konzerte zum 70. Geburtstag im In- und Ausland, u. a. Konzerthaus Wien, Projekt Friedrich Cerha mit sieben Konzerten bei den Salzburger Festspielen, Spiegel-Aufführung bei den Berliner Festspielen.

1997 Auftrag der Wiener Staatsoper zur Komposition der Oper „Der Riese vom Steinfeld“ (Libretto: Peter Turrini).

1998 Uraufführung des Auftragswerks Konzert für Violoncello und Orchester bei den Berliner Festspielen durch Heinrich Schiff und die Berliner Philharmoniker, Leitung: Michael Gielen.

1999 Komposition des Zyklus Im Namen der Liebe (Texte von Peter Turrini) für Bariton und Orchester (Auftrags- werk des Festivals de Música de Canarias)

2000 Komposition des Orchesterstücks Hymnus im Auftrag des Konzerthauses Berlin

2001 Uraufführung der Fünf Stücke für Klarinette, Violoncello und Klavier zum 50. Geburtstag von Heinrich Schiff Komposition der Rhapsodie pour violon et piano im Auftrag des Wettbewerbs Jacques Thibaud, Paris
Beginn der Komposition des Requiems für Soli, Chor und Orchester im Auftrag des Konzerthauses Wien

2002 Uraufführung der Oper Der Riese vom Steinfeld an der Staatsoper Wien

2004/04 Komposition des Konzerts für Sopransaxophon und Orchester

2004 Komposition des Konzerts für Violine und Orchester und des Quintetts für Klarinette in A und Streichquartett (Auftragswerk von BNP Paribas)
Uraufführung des Requiems für Soli, Chor und Orchester

2004/05 Komposition der Momente für Orchester (Auftragswerk der Musica Viva München)

Cerha erhielt viele Kompositionsaufträge, u. a. vom Südwestfunk Baden-Baden, NDR Hamburg, Radio Bremen, Süd- deutschen Rundfunk, ORF Wien, Steirischen Herbst Graz, BM für Unterricht und Kunst Wien, Festival Royan, Koussevitzky-Foundation New York. Er erhielt ebenso zahlreiche Kompositionspreise, darunter den Preis der Stadt Wien (1974) und den Großen Österreichischen Staatspreis (1986), den er für Aufführungen von Werken junger Komponisten stiftete.


Zum Werk Friedrich Cerhas

Nach Kriegsende hat sich Cerha zunächst mit dem in Konzertleben und Unterrichtsbetrieb vorherrschenden Neoklassizismus auseinandergesetzt; (das 1948 konzipierte Divertimento ist eine Hommage an Strawinsky). Später wurden Werke Anton Weberns und ab 1956 die seriellen Techniken der Avantgarde zu Ausgangspunkten für weitere selbständige kompositorische Entwicklungen (Relazioni fragili, Espressioni fondamentali, Intersecazioni). Mit Mouvements, Fasce und seinem Spiegel-Zyklus (1960/61) hat er sich eine von traditionellen Formulierungen gänzlich freie Klangsprache geschaffen. Sie unterscheidet sich von scheinbar Ähnlichem in gleichzeitig und unabhängig davon entstandenen Werken von Ligeti oder Penderecki vor allem dadurch, dass fassbare Entwicklungsvorgänge eine entscheidende Rolle spielen und im Verein mit nicht-linearen Prozessen großformale Zusammenhänge stiften, die das Gesamtwerk zu einem kohärenten System, zu einer Art Kosmos werden lassen. In dem bisher auf der Bühne nicht realisierten „Welttheater“-Konzept zu den Spiegeln entsprechen quasi aus raum-zeitlicher Distanz betrachtete Verhaltensweisen der Masse „Mensch“ den musikalischen Vorgängen in Massenstrukturen.

Im Bühnenstück Netzwerk, auf der Basis der bewusst heterogenes Material einbegreifenden Exercises (1962 - 67) entstanden, wechseln die Perspektiven zwischen Massenreaktionen und wie unter dem Mikroskop herangezogenen Individualbereichen. Stilistisch und strukturell regressive Elemente brechen in eine puristische Klangwelt ein und schaffen komplexe Verhältnisse von Störung und Ordnung in einem Organismus, der dem Bild einer „Welt als vernetztes System“ entspricht.

Nach einer Reihe von Instrumentalwerken, die im Interesse einer Erweiterung des ihm verfügbaren Materials direkten Bezug auf historische Idiome nehmen (Curriculum, Sinfonie), sind in der Oper Baal (1974 - 80) alle bisher erreichten Strukturformen nahtlos ineinander verwoben. Der Einzelne tritt nun provokant ins Zentrum des Interesses, aber die Palette reicht von Spiegel-ähnlichen Klangfeldern, die für Urgrundhaftes stehen, bis zu eindeutig artikulierten melodisch-harmonischen Gestalten, in denen sich das differenzierte Beteiligtsein des Individuums äußert. In der Oper Der Rattenfänger (1984 - 86) werden zusätzlich vor allem polyrhythmische Bildungen mit leitmotivischer Bedeutung für Aufruhr und Unruhe integriert.

Eine Wiederaufnahme von Auseinandersetzungen mit verschiedenen Formen von Folklore, - schon im Frühwerk feststellbar -, bezieht sich in kleineren Arbeiten wie den Keintaten (nach Ernst Kein) und Chansons (nach Texten der Wiener Gruppe) auf eine Stilisierung und Verfremdung des Wiener Idioms.

In den zum Teil mikrotonalen Streichquartetten verstärken hingegen Einflüsse aus außereuropäischer Musik die Tendenzen zu polyrhythmischen und -metrischen Bildungen, die auch in weiteren Stücken (Langegger Nachtmusik III, Quellen) eine Rolle spielen. Die letzten Werke bestätigen erneut, dass es Cerhas - schon 1962 einsetzendes - Interesse bleibt, eine Vielfalt von heute Erfahrbarem in komplexen musikalischen Organismen zu bewältigen. (Gertraud Cerha)


Heinz Karl Gruber

Heinz Karl Gruber wurde 1943 in Wien geboren, war Sängerknabe, 1957 bis 1963 studierte er an der Wiener Musikhochschule u. a. Kontrabass, Horn und Klavier, Tanztechnik, elektronische Musik und Komposition bei Alfred Uhl, Erwin Ratz und vor allem bei Gottfried von Einem.

Als Kontrabassist spielte Gruber zunächst im Kammerorchester „die reihe“, von 1963 bis 1969 beim NÖ Tonkünstlerorchester, seit 1969 beim ORF Symphonieorchester (RSO). Als Dirigent arbeitete er u. a. mit dem ORF Symphonieorchester, dem RSO Berlin, dem Scottish Chamber Orchestra, dem Ensemble Modern, der London Sinfonietta und dem Ensemble "die reihe", dessen künstlerische Leitung er 1984 übernahm. Gruber ist auch als Chansonnier tätig; für seine ausdrucksstarke Art des Sprechgesangs entstanden Werke von Cerha, Schwertsik u. a. 1968 gründete er mit Kurt Schwertsik und Otto M. Zykan das Ensemble MOB art & tone ART und arbeitete an einer Reihe von Produktionen im musikalisch-szenischen Bereich.

Als Komponist in einer oft bewusst vereinfachenden und tonal gebundenen Tonsprache zählt Gruber heute zu den wichtigsten seiner Generation. In den letzten Jahren ist eine Reihe von Performances und Schwerpunktveranstaltungen im Bereich der österreichischen zeitgenössischen Musik seinen Arbeiten gewidmet gewesen. In Auswahl ist aus seinem schon sehr umfangreichen Werkkatalog etwa zu nennen: Orchestermusik, Konzerte, Stücke für das MOB-Ensemble, das „musikalische Spektakel“, „Gomorra“ oder die „Frankenstein- Suite“. Sein Schaffen und Wirken wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Förderungspreis der Stadt Wien, dem Förderungspreis der Theodor- Körner-Stiftung, dem Würdigungspreis für Musik des BMUK und dem Preis der Stadt Wien für Musik (1989). 2003 erhielt Gruber den Großen Österreichischen Staatspreis für Kunst.

Ensemble „die reihe“

wurde 1958 von Friedrich Cerha und Kurt Schwertsik gegründet und gehört zu den traditionsreichsten Ensembles für Neue Musik in Europa. Es verstand sich stets als Vorkämpfer für die Präsentation Zeit- genössischer Musik und schuf der Avantgarde ein permanentes Forum im österreichischen Musikleben. Die musikalische Bandbreite des Ensembles umfasst die wesentlichen Kammermusikwerke aller Stilrichtungen seit dem Jahr 1900, wobei die Pflege der Zweiten Wiener Schule, also des Schaffens von Schönberg, Berg und Webern, einen bedeutenden inhaltlichen Schwerpunkt bildet. Besonderes Augen- merk wurde stets auch auf das künstlerische Schaffen nach 1945 gelegt.

Seit den frühen sechziger Jahren veranstaltet das Ensemble „die reihe“ nicht nur eigene Konzertzyklen in Wien, sondern ist regelmäßig bei den führenden internationalen Avantgarde- Festivals zu Gast (Wien Modern, Hörgänge Wien, Salzburger Festspiele, Wiener Festwochen, Bregenzer Festspiele, Berliner Festwochen, Donaufestival, Holland-Festival, Warschauer Herbst, steirischer herbst, Biennalen Venedig und Zagreb, Musica Viva München, Musik der Zeit Köln, Neues Werk Hamburg, Nutida Musik Stockholm, Accademia Filarmonica Rom, usw.) Gastspiele wie unter anderem in den USA vervollständigen das internationale künstlerische Wirken.
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