WIEN MODERN

Ensemble Champ d'Action (Antwerpen)

WIEN MODERN

Ensemble Champ d'Action (Antwerpen)
So, 19.11.2006, 19:30 Uhr

Das Schömer-Haus

An diesem Abend gelangt eine Aufragskomposition der Sammlung Essl an Serge Verstockt zur Uraufführung, die in Zusammenarbeit mit dem Architekten Werner Vandermeersch entwickelt wurde.

Im heutigen Konzert im Rahmen von WIEN MODERN wird erstmals das flämische Ensemble „Champ d’action“ in Österreich zu hören sein, das sich international für seine genre-übergreifenden Projekte einen Namen gemacht hat. An diesem Abend gelangt eine Aufragskomposition der Sammlung Essl an Serge Verstockt zur Uraufführung, die in Zusammenarbeit mit dem Architekten Werner Vandermeersch eigens für das SCHÖMER-HAUS entwickelt wurde: An Drahtseilen aufgehängte Lautsprecher schwirren mittels Propellerantrieb über den Köpfen des Publikums und erzeugen eine flirrende Klanglandschaft, in die das Ensemblestück „Voder“ gleichsam eingebettet ist.

Die weiteren Werke dieses Abends thematisieren gleichfalls die Verquickung von Instrumenten mit den verschiedensten Möglichkeiten der Elektronischen Musik. Als „Klassiker“ darf Lucien Goethals Fusion (1976) gelten, in dem Bassklarinette und Klavier in Dialog mit Tonband-Klängen treten. Avancierter Umgang mit interaktiven Live-Elektronik zeichnet Hodechtri (2006) von Peter Swinnen aus, das ebenfalls heute seine Uraufführung erlebt. Als weiterer Klassiker darf der Brite Jonathan Harvey gelten, dessen Komposition Soleil noir / Chitra (1994) für Ensemble und Elektronik eigens für das Ensemble „Champ d’action“ komponierte wurde.

Das SCHÖMER-HAUS, vor fast 20 Jahren von Heinz Tesar erbaut, verwandelt sich an diesem Abend wieder in einen magischen Ort, in dem sich Architektur, Bilder und Klänge zu einem inspirierenden Gesamterlebnis verbinden.

Dr. Karlheinz Essl
Musikintendant des SCHÖMER-HAUSES


Programm

Lucien Goethals (* 1931): Fusion (1976)
für Bassklarinette, Klavier und Tonband

Peter Swinnen (* 1965): Hodechtri (2006) - UA
für Ensemble und Elektronik

Jonathan Harvey (* 1939): Soleil noir / Chitra (1994)
für Ensemble und Elektronik

Serge Verstockt (* 1957): Voder (2006) - UA
für Ensemble, Klanginstallation und Elektronik
Kompositionsauftrag der Sammlung Essl - Uraufführung


Ausführende

Champ d'action (Antwerpen)
Dirigent: Jaan Bossier

Sabine Warnier: Flöte
Piet Van Bockstal: Oboe
Sabine Uytterhoeven: Klarinette
Gudrun Vercampt: Violine
Benjamin Glorieux: Violoncello
Lode Leire: Kontrabass
Yutaka Oya: Klavier, Synthesizer
Kristina Van Damme: Synthesizer
François Delporte: Gitarre
Tom Verschoore: Posaune
Bob Van der Strieckt: Posaune
Kristof Falise: Tuba
Astrid Haring: Harfe
Fedor Teunisse: Schlagzeug
Maarten Buyl: Elektronik
Peter Swinnen: Elektronik



WERKKOMMENTARE


Lucien Goethals: Fusion

Lucien Goethals erste elektronischen Kompositionen waren stark von der „musique concrète“ beeinflußt. Dieser Ansatz änderte sich jedoch in seiner Studie V, wo durch die Hereinnahme empirischer Verfahrensweisen sich eine neuartige Haltung zum musikalischen Material darstellt, das nach statistischen Gesichtspunkten geordnet erscheint ist. In Zusammenarbeit mit Walter Landrieu am „Institut für Psychoakustik und Elektronische Musik“ in Gent entstand schließlich Studie VIIb: Durch Integration des Zufalls in das serielle Konzept erscheint das Ausgangsmaterial in ständig wechselnden Kombinationen. In Fusion (1976) wird der Kontrapunkt zu einem bestimmenden Faktor, der die Verknüpfung zwischen der instrumentalen und der elektronischen Klangwelt herstellt.

Lucien Goethals: Geboren 1931 in Gent. Erster Musikunterricht zunächst in Buenos Aires (Argentinien), ab 1956 Musikstudium in Gent (Belgien). Ungeachtet des konservativen Klimas am Konservatoriums Interesse an den neuen internationalen Musikströmungen wie Serialismus, Elektronische und Aleatorische Musik. Neben seiner kompositorischen Tätigkeit arbeitete er als Produzent des Belgischen Rundfunk und ist Mitglied des 1963 gegründeten Instituts für Psychoakustik und Elektronische Musik in Gent, wo er mit Tonband und Klanggeneratoren experimentierte. Teilnahme an den Darmstädter Ferienkursen für neue Musik und den Komponistenworkshops in Bilthoven. Computermusik-Studium bei Gottfried Michael Koenig am Institut für Sonologie in Utrecht.


Peter Swinnen: Hodechtri

„Ich habe vor kurzem entdeckt, welch faszinierende musikalische Transformationen sich ergeben, wenn man den Bitmap-Font eines Textes verändert und durch einen Image Synthesizer laufen lässt. In meinem neuen Stück – einem Sextett für Flöte, Violine, Klarinette, Cello, Klavier und Schlaginstrumente – entwickle ich diese Idee weiter und führe einige Manipulationen musikalischer Gesten durch, die auf spezifischen instrumentalen Techniken basieren.

Ich erforsche darüber hinaus die ungeheuren klanglichen Möglichkeiten zweier oder mehrerer sich mittels elektronischer Manipulationen gegenseitig beeinflussender Instrumente. Ich habe in der Vergangenheit oft mit dem Konzept «erweiterter Instrumente» gearbeitet, wobei die Elektronik die Ausdrucksmöglichkeiten eines akustischen Instruments multipliziert und in jeder Hinsicht von der Person, die dieses Instrument spielt, gesteuert wird. In diesem Stück möchte ich weiter gehen. Die Instrumentalklänge werden elektronisch verschmolzen, die einzelnen Instrumentalisten oder Instrumentalistinnen kontrollieren aber nur jeweils ein Parameter des Klanges. Ermöglicht wird dies allerdings nicht durch einen MIDI-Controller, sondern den individuellen akustischen Klang, der in Echtzeit vom Computer erfasst und prozessiert wird. Es wird also ein computergestütztes, «erweitertes, kombiniertes Instrument» geschaffen, das nicht nur die Zeit, sondern auch den akustischen Raum gestalten kann.“ (Peter Swinnen)

Peter Swinnen: Geboren 1965. 1983–92 Studium am Konservatorium Brüssel und am Queen Elisabeth College of Music (Waterloo): Komposition bei André Laporte. Meisterklassen bei Michael Finnissy und Brian Ferneyhough. Seit 1992 Lehraufträge am Konservatorium Brüssel für Musikanalyse, Musiktechnologie und Komposition. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen.


Jonathan Harvey: Soleil noir / Chitra

„Wie der Titel impliziert, basiert das Werk auf der Erkundung einer Dualität. Auf der einen Seite gibt es Europa mit seiner Faszination aus Dunkelheit, Melancholie und Verrücktheit. Ich habe Julia Kristevas psychoanalytische Studie von Gérard de Nervals „El Desdichado“ in ihrem Buch über Melancholie – Soleil Noir – gelesen, in der sie eindringliche Einblicke in Nervals Krankheitsbild, die Melancholie und den Selbstmord erläutert.

Auf der anderen Seite steht Indien mit seinem Glanz, seiner Naivität (es gab keinen indischen Freud), seiner Nostalgie für die Präsenz des Göttlichen und seiner auf mysteriöse Weise einladenden Tiefe (Chiatra ist ein weiblicher Charakter des Mahabharata, über den Tagore ein bezauberndes Stück geschrieben hat).

Schwere/Leichtigkeit, Kraft/Zartheit, schnell/langsam, Stagnation/Tanz: Dies sind einige der Kontraste, deren Gegenüberstellung ich als zwei Aspekte desselben Bewusstseins verstehe.“ (Jonathan Harvey)

Jonathan Harvey: Geboren 1936 in Sutton Coldfield (Großbritannien). 1948–52 Sängerknabe am St. Michael’s College (Tenbury); Musikstudium am St. John’s College in Cambridge; auf Anraten Benjamin Brittens privates Kompositionsstudium bei Erwin Stein und Hans Keller. 1964 Promotion an der Universität von Edinburgh.1969/70 Harkness-Stipendium in Princeton (New York): Kontakt mit Milton Babbit. Ab 1980 Arbeit am IRCAM (Paris). 1993 Britten Award. 1996–99 Composer-in-Residence beim Kammerorchester Sinfonia 21; Ehrendoktorate der Universitäten Bristol und Southampton; Mitglied der Academia Europaea. Gastprofessur für Musik am Imperial College, London. Professor an der Stanford University, Kalifornien. Ehrenprofessur der Sussex University.


Serge Verstockt: Voder

„Die Autonomie musikalischer Parameter wie Klangfarbe und Raum hat zur bis dato wichtigsten Entwicklung im Bereich der zeitgenössischen Musik geführt. Diese technologische Evolution und vor allem die sich daraus ergebenden Einsatzmöglichkeiten inspirierten mich zu meiner Komposition Voder.

Der von Bell Labs in den 30er Jahren entwickelte „Voder“ war der erste Sprach-Synthesizer. Indem die Tasten, Schalter und Schieber dieses Gerätes mit Händen und Füßen bedient wurden, konnte verständliche Sprache durch Telefonleitungen nach Übersee geschickt werden. Ein Jahr lang wurden hunderte junger Frauen dazu ausgebildet, mit Händen und Füßen zu sprechen. Bei „Voder“ betätigen die Musiker und Musikerinnen ebenfalls Tasten und Pedale, um das homogene Klangspektrum ihrer Instrumente zu modulieren.

Wenn wir einen Klang an einem anderen Ort hören wollen, installieren wir ein Mikrophon, transportieren also Schallschwingungen als variable elektrische Ströme. Wir gehen einen Schritt weiter, indem wir Klänge auf Tonband aufnehmen und die Bänder später wieder abspielen, was unbekannte Manipulation von Zeit und Raum zur Folge hat. In modernen Kinos ist der Sound omnipräsent und überwältigend. Ohne Fragen zu stellen akzeptieren wir diese virtuelle Audiowelt, als ob sie Realität wäre. Ich habe daher mit Werner Vandermeersch eine Installation konzipiert, die aus vier Lautsprechern mit Propellerantrieb besteht und an Drahtseilen über dem Publikum aufgehängt wird. Ein Computerprogramm auf dem Boden setzt die Lautsprecher – und somit auch die Klänge – in Bewegung und schafft eine chaotische, flirrende Klanglandschaft, wobei nur die Geschwindigkeit gesteuert werden kann. Das ist keine Simulation: Der Sound rotiert im wahrsten Sinn des Wortes über den Köpfen des Publikums.“ (Serge Verstockt)

Serge Verstockt: Geboren 1957 in Braschaat (Belgien). Studium am Konservatorium Brüssel: Partiturspiel und Tontechnik, Klavier und Klarinette. Studium am Konservatorium Antwerpen: Klarinette bei Walter Boeykens. 1983–85 Studium am Institut für Sonologie (Utrecht) bei Gottfried Michael Koenig.1988 Gründung des Ensembles Champ d’Action, dessen künstlerischer Leiter er seit 1997 ist. Intensive Auseinandersetzung mit Techniken der computerunterstützten Komposition.



INTERPRETEN


Champ d'action

Champ d’Action wurde 1988 vom Komponisten Serge Verstockt gegründet. Damals kam die zeitgenössische Musik in Flandern nur langsam in Gang. Die Musik flämischer Komponisten – wobei auch die des international geschätzten Karel Goeyvaerts – wurde im eigenen Land selten aufgeführt. Darum hatte Champ d’Action in den ersten Jahren eine echte Pionierfunktion. Starke Bindungen zur modernen bildenden Kunst in Flandern ergaben, dass Champ d’Action nahezu sofort in ein breiteres Gebiet der zeitgenössischen Kunst eingebettet war. Die stete Aufmerksamkeit für die Werke flämischer Komponisten ergab verschiedene Uraufführungen und, in Zusammenarbeit mit der K.U.L. (Katholische Universität Leuven), die Realisation einer CD-Serie mit und um das Werk von Karel Goeyvaerts. Daneben wurden wichtige Werke ausländischer Komponisten vorgestellt und internationale Kompositionsaufträge erteilt, um das einheimische Werk in einen kritischen und künstlerisch anspruchsvollen Kontext zu setzen.

Antwerpen 93, Kulturhauptstadt Europas, bedeutete einen wichtigen Schritt bei der Entwicklung von Champ d’Action. Unter dem Impuls dieses Jahres wurden bedeutende Aufträge von Uraufführungen vergeben (u.a. an die finnische Komponistin Kaija Saariaho) und wurde eine CD mit Uraufführungen von Werken flämischer Komponisten realisiert. Später beginnt Champ d’Action mit einer eigenen CD-Serie (cd-a) und ergibt sich eine Zusammenarbeit mit dem amerikanischen CD-Label Mode Records. Die erste CD mit Arbeiten von Kaija Saariaho wird international sehr lobend aufgenommen (u.a. 4 Sterne bei der BBC).

Einige Höhepunkte der vergangenen Jahre waren die Zusammenarbeit mit Irvin Arditti (deSingel/Antwerpen 2000), die Aufführung des achtstündigen Stückes “Heiliger Dankgesang-Quartett” von Dick Raaijmakers beim Holland Festival und die Zusammenarbeit von Serge Verstockt mit dem Architekten Werner Vandermeersch, was zu zehn Freilichtaufführungen von “Screens” beim “Zomer van Antwerpen” führte. “Screens” wurde 2002 in einer überarbeiteten Version im Concertgebouw in Brügge aufgeführt im Rahmen von “Format en Brugge 2002”.

Nach fünfjähriger Abwesenheit wurde Serge Verstockt im Januar 2003 wieder künstlerischer Leiter von Champ d’Action.

2004 schrieb Champ d’Action ein neues elektronisches Programm zur Realisation von “Quando Stanno Morendo, diario Polacco 2°” von Luigi Nono und führte dieses Werk mit Josse De Pauw auf, der selbst eine niederländische Bearbeitung der Texte machte. Im selben Jahr wurde mit “Klokkenproject”, ein Werk für Stadtglockenspiele von Serge Verstockt, ein breites Publikum erreicht, als es auf dem Grossen Markt in Antwerpen zu hören war. Mit einigen Minimal-Projekten über amerikanische und europäische “early minimal music” erreichte Champ d’Action in verschiedenen flämischen Sälen ebenfalls ein grosses Publikum.

2005 waren u.a. auffallende Projekte das Grosse Minimal Projekt beim Klarafestival in Zusammenarbeit mit Collegium Vocale und das Konzert bei Music@venture mit zwei Visionen aus der neuen Oper “Hildegard” von James Wood, sowie einer Uraufführung von Wim Henderickx.

2006 wird das Nono-Projekt beim Holland Festival und in De Bijloke in Gent wiederholt. Auch wurde Champ d’Action zum ersten Mal vom Festival Wien Modern nach Wien eingeladen mit Uraufführungen von Serge Verstockt und anderer flämischer Komponisten. Neben struktureller Zusammenarbeit mit Partnern wie MuHKA (Museum für Moderne Kunst Antwerpen), der Schlagzeuggruppe Den Haag und dem Choreographen Marc Vanrunxt ist Champ d’Action ab der Saison 2006-2007 “ensemble in residence” in deSingel in Antwerpen. Mit diesem internationalen Kunstzentrum und dem Konservatorium von Antwerpen wird ein ehrgeiziges Zusammenarbeitsprojekt ausgearbeitet über Aufführungspraxis, Komposition und dem Gebrauch von Elektronik in der zeitgenössischen Musik.


Jaan Bossier

Studierte Klarinette und Klavier am Königlichen Konservatorium in Antwerpen. Klarinettist des Gustav Mahler Kammerorchesters und des Chamber Orchestra of Europe, wo er mit u.a. mit Claudio Abbado, Daniel Harding, Trevor Pinnock, Sir Neville Marriner, Kurt Mazur und Anne-Sophie Mutter zusammenarbeitete. Seit 2003 ist er zudem Bassklarinettist des Luzern Festival Orchesters. Intensive Zusammenarbeit mit dem Ensemble Champ d'action, zunächst als Klarinettist, seit 2000 auch als Dirigent.
1 / 1
Impressum