Adventkonzert 1994

J. S. Bachs Kunst der Fuge

Adventkonzert 1994

J. S. Bachs Kunst der Fuge
Sa, 10.12.1994, 20:00 Uhr

Das Schömer-Haus

Die "Kunst der Fuge" gilt als J. S. Bachs letztes großes Werk, als sein künstlerisches Testament. Vor allem gab seine Unvollendetheit - der abschließende Contrapunctus bricht inmitten der Durchführung des 3. Themas ab - Anlaß zu geheimniskrämerischen Spekulationen, ja auch zu manch heroisch-tragischer Deutung.
Bachs "letztes Werk"

Die Kunst der Fuge gilt als J. S. Bachs letztes großes Werk, als sein künstlerisches Testament. Vor allem gab seine Unvollendetheit - der abschließende Contrapunctus bricht inmitten der Durchführung des 3. Themas ab - Anlaß zu geheimniskrämerischen Spekulationen, ja auch zu manch heroisch-tragischer Deutung. Hat doch Sohn Carl Philipp Emanuel neben den plötzlichen Abbruch der väterlichen Handschrift den bedeutungsschweren Satz geschrieben: Über dieser Fuge, wo der Name BACH im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben.

Musikwissenschaftliche Untersuchungen neueren Datums haben diese Ansicht in Frage gestellt. Höchstwahrscheinlich ist die Kunst der Fuge in ihrer ersten handschriftlichen Fassung bereits Anfang der 1740er Jahre entstanden, also noch vor dem Musicalischen Opfer (1747) und der Endfassung der h-moll Messe (1748/49). C.Ph.E. Bach, der seit 1738 in den Diensten Friedrichs des Großen stand und daher das letzte Schaffensjahrzehnt seines Vaters nicht miterlebte, irrte also allem Anschein nach mit seiner Bemerkung, die den "heroischen" Mythos der Kunst der Fuge begründete. Indessen hat er, der kompositorisch ganz andere Wege ging als sein Vater, die von Bach selbst begonnenen Vorbereitung zum Druck (besser: Stich) zu einem sinnvollen Abschluß gebracht. Die Stichfassung erschien nach Bachs Tod,1752, und unterscheidet sich in großen und kleinen Details erheblich von der autographen Handschrift Bach hatte sie 1749 als Jahresgabe der Mizlerschen Societät, einer Vereinigung von Komponisten und Gelehrten, der er seit 1747 angehörte, vorgesehen, daher neu überarbeitet und zum Druck bestimmt. Mit Arbeit zeitlebens überhäuft und stets mehrfach belastet, arbeitet Bach fieberhaft an der termingerechten Fertigstellung - geriet aber dennoch in Verzug. Die riskante Augenoperation und der darauf folgende plötzliche Tod vereitelten die Fertigstellung vollends. Es stimmt: Bach starb inmitten der Arbeit an der Kunst der Fuge. Es stimmt jedoch nicht, daß ihm der Tod sozusagen die Feder entwand, als er im letzten Contrapunctus das Signum seines Namens in Tönen anbrachte - der letzte Contrapunctus war schon in der autographen Fassung der frühen 1740er Jahre unvollendet geblieben.


Fragment als Absicht?

Um die Unvollendetheit zu kompensieren, führt C.Ph.E. Bach der Druckausgabe Bachs Orgelchoral Vor deinen Thron tret ich hiermit hinzu, der aber mit der Kunst der Fuge kompositorisch oder inhaltlich rein gar nichts zu tun hat. Mit diesem fingierten Schlußstück, das dem Werk eine geheimnisvoll-pseudomystische Aura verliehen hat, legte Philipp Emanuel den Grundstein zum "heroischen" Mythos vom tragischen Todeszyklus, der die Bach-Biographien seither durchgeistert. Ein Grundstein, der also nicht im "Romantischen" 19. Jahrhundert gelegt wurde, sondern im "aufgeklärten" 18. Jahrhundert...

Nicht desto weniger stellt man sich nun die Frage: Ist der plötzliche Abbruch in Takt 239 des letzten Contrapunctus zufällig oder entspricht er einer bestimmten Absicht?

Manche Vertreter der sogenannten "theologischen Bachforschung" meinen, die Unvollendetheit entspräche Bachs Absicht und sei Teil seines kompositorischen Bauplans. Da Zahlensymbolik in der barocken Kunstanschauung eine nicht unerhebliche Rolle spielt, werden verschiedene Zahlenverhältnisse zur "kabbalistischen" Beweisführung herangezogen, die wohl erstaunlich sind, hier aber nicht näher erörtert werden können. Daß Bach sein Opus ultimum und summum unvollendet beließ - möglicherweise um darzutun, daß alles menschliches Wissen und Können angesichts der Ewigkeit Stückwerk ist und bleibt - entspricht durchaus der alten Denkweise. Analoges findet sich etwa beim schlesischen Mystiker Jakob Böhme oder auch am Schluß von Dantes Divina Comedia. Die Schau der göttlichen Dreifaltigkeit ist dort eine blitzartige, sofort aber wieder abbrechende Erkenntnis: Die Kraft der hohen Phantasie hier spleißt...

Um bei das unvollendete Werk bei einer Aufführung dennoch abzurunden, kann man am Ende den Contrapunctus I wiederholen, gleichsam als ein "Wir beginnen immer wieder neu" - also in ähnlicher Weise, wie am Schluß der Goldberg-Variationen die einleitende Aria nochmals gespielt wird. Dadurch erhält das Werk den Charakter einer spiralförmigen, unendlichen Ordnung - einer "Endlosschleife", wie dies der amerikanische "Computerphilosoph" Douglas R. Hofstadter in dem Kultbuch der 80er Jahre Gödel, Escher, Bach suggeriert.


Das Instrumentarium

Die Kunst der Fuge ist als Partitur in vier Systemen notiert. Dies verleitet zu der Annahme, daß das Werk instrumentiert werden müsse. Seit 1927, als die Kunst der Fuge in der Orchesterfassung Wolfgang Graesers zum ersten Mal öffentlich in einer legendären Aufführung durch den Leipziger Thomaskantor Karl Straube erklang, wurde und wird mit der Instrumentierung des Werkes experimentiert.

Die historische Aufführungspraxis und Bachs Einrichtung der Spiegelfugen für zwei Cembali verweisen jedoch auf besaitete Tasteninstrumente (vor allem Cembalo, aber auch Clavichord oder Fortepiano) als adäquate Instrumente. Tatsächlich sind auch alle Contrapuncti durchaus mit zehn Fingern ausführbar... Die Orgel scheidet aus, weil in manchen Contrapuncti der geforderte Tonumfang die Klaviatur der Orgeln zu Bachs Zeit überschreitet.

Solche Musik war auch gar nicht zur öffentlichen Ausführung im großen Rahmen bestimmt (der "bürgerliche" Konzertsaal existierte noch nicht), sondern der privaten, geist-reichen Gemüthsergetzung spielender und zuhörender Kenner und Liebhaber vorbehalten. Auch war die Partiturnotation bis ins 18. Jahrhundert die übliche Notationsform für polyphone Musik, die der Kenner zuhause auf seinem Instrument (ein Cembalo oder Clavichord) spielen konnte, wobei der nachvollziehende, verstehende "Genuß" einer kunstfertig gebauten Komposition ein wesentlicher Aspekt der Rezeption war.

Obwohl außer Zweifel steht, daß die integrale Wiedergabe am Cembalo dem Werk völlig adäquat ist, haben Ausführungen mit Instrumentalensemble ihre Berechtigung. Den anderthalb Stunden währenden Zyklus am Cembalo zu hören, verlangt geübte Hörer - eben jene Kenner und Liebhaber der Bachzeit. Der verschiedenfarbige "Spaltklang" eines gemischten Ensembles kann dagegen dem heutigen Zuhörer das Zu- und Durchhören erleichtern.

Man kann die Kunst der Fuge auch als eine abstrakte und daher offene Partitur auffassen, die jenseits eines real intendierten Klanges ein Experimentieren mit der Instrumentation herauzufordern scheint. Für die Aufführung des heutigen Abends haben wir daher eine Besetzung gewählt, die Ensemble- und Clavier-Version kombiniert. Da der Klang des Cembalo sich mit den modernen Instrumenten nicht befriedigend verbindet, verwenden wir an seiner Stelle einen "entfernten Verwandten": das Orgelpositiv, eine kleine pedallose Orgel in Truhenform. Als gleichsam geblasenes Instrument schlägt es überdies eine Brücke zur Bläsergruppe der heutigen Aufführung. Es wird dem Ensemble gegenübergestellt wie Satz und Gegensatz, Frage und Antwort, Licht und Schatten.


Der musikalische Stellenwert

Als Abkömmling der spätmittelalterlichen Polyphonie wurde die Fuge im Barock zu einer ordnungshaften Form. In Bachs Kunst der Fuge zeigen sich noch einmal, gleichsam abschließend, alle Techniken der Kontrapunktitk, Imitatorik und Kombinatorik - ausgehend von einem einzigen (!) Grundthema, das sukzessive variiert wird und dem sich neue Themen hinzu gesellen. Der stile antico der spätmittelalterlichen Polyphonie verschränkt sich mit dem affektiven Empfinden des Hochbarock; dessen Ausdruckswelt wird unter dem Gesetz des Kontrapunktes ein letztes Mal zusammengefaßt. Wohl ist die Kunst der Fuge im alten Stil komponiert, sie blickt aber nicht nur zurück, sondern läßt kommende musikalische Entwicklungen, etwa Beethoven und Schönberg, erahnen. Der Kühnheit der Konstruktion entsprechen in der harmonischen und melodischen Dimension immer wieder geagte Felder und Stimmzüge. Ordnendes (altes) und entwickelndes (modernes) Musikdenken manifestiert ich gleichermaßen - und spitzt sich zu...

Zudem hat die Kunst der Fuge, wie überhaupt das Bach'sche Spätwerk, einen emanzipatorischen Zug. Das Werk entstand nicht als anbefohlener Komponierauftrag, es entsprang nicht fuedalen Amtspflichten, sondern einzig Bachs ureigenem künstlerischen Antrieb. Der Aufstieg des aufgeklärten "bürgerlichen" Individuums widerspiegelt sich darin ebeso wie ein dialektisches Prinzip: die Befreiung von feudalen Amtspflichten geschieht nicht mit einer "modernen" Tonsprache, die alte Ordnungen zerschlägt (das tut Beethoven...), sondern mit den kompositorischen Mitteln des ancien regime.


Der Sinn des Ganzen

Das Ganze von Welt und Universum, Gott und Mensch, will und muß heute neu überdacht werden. Bachs Kunst der Fuge als "ganzheitlicher" Zyklus in dem sich Intellekt und Affekt die Waage halten, kann symbolisch etwas dazu beitragen. Die Geistigkeit der Konstruktion tut der Sinnlichkeit der Klangwelt keinen Abbruch.

Die Kunst der Fuge ist kein abstraktes Schauwerk, keine "Augenmusik", keine "contrapunctische Katzenmusik" (wie um 1880 ein Musikhistoriker klagte), ist nicht "das deutscheste Musikwerk, das sich denken läßt" (wie die Kulturinquisitoren des Dritten Reiches markig behaupteten), sondern ist: lebendige Musik, die man mit Vergnügen hören kann.

In dieser Hinsicht halten wir es mit Alban Berg, der seiner Helene, nach einer Aufführung des Werks 1928 in Zürich, schrieb: "Gestern Kunst der Fuge gehört. Herrlich!! Ein Werk, das bisher für Mathematik gehalten wurde. Tiefste Musik!"

Wie soll man nun das Ganze hören? Analytisch? Sich der Musik hingebend? Meditierend? Vielleicht am besten von jedem etwas, je nach Typ mehr von diesem, mehr von jenem.

© 1994 by Roman Summereder
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