ADVENTKONZERT 1993

La Fin du Temps

ADVENTKONZERT 1993

La Fin du Temps
Sa, 18.12.1993, 20:00 Uhr

Das Schömer-Haus

Wenn Entstehungsorte auf Kompositionen abfärbten, wäre es im Falle des Quatuor pour la Fin du Temps ein unendlich tristes, eisiges Grau gewesen. Es ist wohl kaum eine trübere Umgebung denkbar als das winterliche Kriegs-gefangenenlager in Görlitz, in dem Olivier Messiaen im zweiten Weltkrieg interniert war.
Messiaens "Quatuor pour la Fin du Temps"

Wenn Entstehungsorte auf Kompositionen abfärbten, wäre es im Falle des Quatuor pour la Fin du Temps ein unendlich tristes, eisiges Grau gewesen. Es ist wohl kaum eine trübere Umgebung denkbar als das winterliche Kriegs-gefangenenlager in Görlitz, in dem Olivier Messiaen im zweiten Weltkrieg interniert war. Doch sein Quartett, das er dort komponiert hatte und dann gemeinsam mit drei anderen inhaftierten Musikern am 15. Jänner 1941 vor 5000 Gefangenen uraufführte, ist von einem klanglichen Reichtum, wie ihn Messiaen auf keiner tropischen Insel prächtiger hätte ersinnen können. Denn die Farbe kam aus seinem Kopf.

"Ich sah den Regenbogen des Engels und seltsame Farbenwirbel", beschrieb Messiaen später seine von Nahrungsentzug und körperlichen Strapazen ausgelösten Halluzinationen. Es ist kein Zufall, daß gerade diese Vision des regenbogenumkränzten feurigen Engels aus dem 10. Kapitel der Apokalypse dem geschwächten Körper entsprang: Der Engel verkündet zwischen dem sechsten und siebten Posaunenstoß das "Ende der Zeit", eine Prophezeiung, die einem Gefangenen, dem jegliches Gefühl für Zeit, für Vergangenheit und Zukunft abhanden gekommen war, verwirklicht scheinen konnte.

Dieser Ausspruch des Engels war Messiaen mehr als ein Titel. Er unterwarf auch seine kompositorischen Mittel der Utopie einer Aufhebung der Zeit, um im Hörer ein Gefühl von Ewigkeit zu erwecken. Zu diesen Mitteln (die Messiaen stets der theologischen Aussage dienten) gehören seine selbstgeschaffenen Ton-arten, taktlose Rhythmen, "nicht umkehrbare" Rhythmen (die innerhalb eines Taktes von rechts wie links gelesen dieselbe Gestalt ergeben) sowie eine harmo-nische Erweiterung bis zur "tonalen Allgegenwart". Auch die Anzahl der Sätze ist kein Zufall: "Sieben ist die vollkommene Zahl, sie bezeichnet den Ruhetag nach den sechs Tagen der Schöpfung; die Sieben dieses Ruhetages verlängert sich in die Ewigkeit und wird die Acht des unzerstörbaren Lichts, des unendlichen Friedens", schreibt Messiaen.

Jeder der acht Sätze, die unterschiedlich besetzt sind - von der unbegleiteten Klarinette bis zum kompletten Quartett -, orientiert sich an verschiedenen religiösen Bildern oder Stimmungen, die Messiaen in der folgenden Beschreibung des Werkes selbst angegeben hat.


1. "Kristallene Liturgie"

Zwischen drei und vier Uhr des Morgens erwachen die Vögel: eine Amsel oder eine Nachtigall improvisiert solistisch. Sie ist von tönendem Staub umgeben, von einem Heiligenschein aus Trillern, die sich hoch oben in den Bäumen verlieren. Dieses Bild möge man ins Religiöse übersetzen - man wird das harmonische Schweigen des Himmels begreifen.

2. "Vokalise, für den Engel, der das Ende der Zeit verkündet"

Der erste und dritte Teil (sehr kurz) beschwören die Kraft dieses starken, mit einem Regenbogen bedeckten und in eine Wolke gehüllten Engels herauf, der einen Fuß auf das Meer und einen Fuß auf die Erde setzt. Im Mittelteil erklingen die unbegreifbaren Harmonien des Himmels. Das Klavier versprüht zarte, schimmernde Akkorde, die mit ihren fernen Glockenschlägen die quasi gregorianischen Melodien der Violine und des Violoncellos umrahmen.

3. "Der Abgrund vor den Vögeln"

Für Klarinette solo. Der Abgrund, das ist die Zeit mit ihrer Traurigkeit und Müdigkeit. Die Vögel, das ist das Gegenteil der Zeit, das ist unsere Sehnsucht nach dem Licht, nach den Sternen, nach dem Regenbogen und jubilierenden Gesängen!

4. "Zwischenspiel"

Ein Scherzo von einem gegenüber den anderen Sätzen mehr äußerlichen Charakter, mit ihnen jedoch durch einige zitathafte Melodien verbunden.

5. "Das Lob von Jesu Ewigkeit"

Jesus wird hier als das Wort angesehen. Eine ausgedehnte, unendlich langsame Phrase des Violoncellos lobt in Liebe und Verehrung die Ewigkeit dieses gewaltigen und süßen Wortes. Majestätisch baut sich die Melodie auf, gleichsam Gefühle einer zarten und doch mächtigen Ferne schaffend. "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott."

6. "Tanz des Zorns, für die sieben Posaunen"

Rhythmisch das charakteristischste Stück des Werks. Die vier Instrumente im Einklang lassen an Glocken und Posaunen denken (die sechs Posaunen der Apokalypse werden von Katastrophen gefolgt, die siebente verkündet, daß der geheime Ratschluß Gottes erfüllt wird), Musik aus Stein, ein gewaltig klingender Fels; ein Satz aus Stahl, mit riesigen Blöcken feurigen Zorns und kalter Trunkenheit.

7. "Das Dickicht der Regenbogen, für den Engel, der das Ende der Zeiten verkündet"

Gewisse Passagen des zweiten Satzes kommen wieder. Der Engel erscheint noch einmal sowie der Regenbogen (das Symbol des Friedens, der Weisheit, Symbol jeder sichtbaren und hörbaren Schwingung). In meinen Träumen höre und sehe ich geordnete Harmonien und Melodien, bekannte Farben und Formen; dann, nach diesem Stadium des Übergangs, gelange ich ins Irreale und erfahre im höchsten Glück einen Wirbel, eine kreisende Verflechtung von übermenschlichen Klängen und Farben! Diese Feuerschwerter, die Lavaströme, diese aufflammenden Sterne; dies ist das Dickicht der Regenbogen!

8. "Lob von Jesu Unsterblichkeit"

Ein ausgedehntes Violinsolo, als Gegenstück zum Solo des Violoncellos im fünften Satz. Warum dies zweite Lob? Es wendet sich mehr an die zweite Erscheinungsform des Messias, an des Menschen Sohn, ans Fleisch gewordene Wort, das wiederauferstanden ist, um uns das Leben zu geben. Es singt in Liebe. Sein langsamer Aufstieg in höchste Höhen ist der Aufstieg des Menschen zu Gott, der Aufstieg des Sohnes zum Vater, der in Gott aufgenommenen Kreatur ins Paradies.

Kein Symbol oder Bild, an dem sich Messiaens musikalische Imagination entzündet, taucht in seinen Werken so häufig auf wie das des Regenbogens, dessen bunte Gestalt die gesamte Komposition des Quatuor durchleuchtet. Seine Faszinationskraft lag für Messiaen zum einen in seiner sinnlichen Erscheinung - ein besonders gelungenes Beispiel der Natur für die Einheit von Schönheit und Gesetzmäßigkeit - zum anderen ist der Regenbogen ein altes religiöses Symbol für Frieden und Versöhnung. "Meinen Bogen setze ich in die Wolken; er soll das Bundeszeichen sein zwischen mir und der Erde", sprach Gott nach der Sintflut zu Noah (Genesis 9, 13).


Messiaens Musik als "klingenden Regenbogen" zu bezeichnen, basiert deshalb zunächst auf dem Bündnis von Sinnlichkeit und Konstruktion, und damit - transzendiert ins Religiöse - von Gott und Mensch. Und wenn Messiaen in seiner Beschreibung des siebten Satzes in ekstatische Worte über das "Dickicht der Regenbogen" ausbricht, gibt er seiner Hoffnung auf die Vereinigung von Gott und Mensch eine farbige, sinnbetörende Gestalt.

© 1993 by Andrea Zschunke
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